Konstruktivismus, Systemtheorie und praktisches Handeln

EINFÜHRUNG FÜR HANDLUNGSFELDER

Zum Inhalt

  Lindemann H.(2H019): Konstruktivismus, Systemtheorie und praktisches Handeln. Vandenhoeck  u. Ruprecht Göttingen.  

 Unter den Rezensionen von schule.at findet sich auch eine recht positive Buchbesprechung zu Lindemann H (2017): Moderation,  Mediation und Beratung in der Schule. Systemisch-lösungsorientierte Gesprächsführung. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht..  

 Der Autor vereint viele Qualifikationen  in seiner  Person: Professor für Entwicklungs-psychologie, Mediator, Supervisor, Organisationsberater  u.  mehr. Der Autor leistet  zunächst eine Einführung in den Konstruktivismus und bringt dabei eine interessante Definition: Konstruktivismus ist Epistemiologie  ohne Ontologie – vielleicht provokant übersetzbar mit: Wissen anstreben ohne zu wissen worüber. Lindemann setzt sich auch  mit dem Verhältnis von Realität und Wirklichkeit auseinander. Beide Begriffe werden von namhaften Philosophen  austauschbar verwendet zur Bezeichnung der  ontischen  , wahrnehmungsunabhängigen Welt und  der subjektiven, konstruierten Welt.   Nach diesem ersten Kapitel bringt der Autor eine prägnante Darstellung der Systemtheorie: Er beschreibt nacheinander die lebenden Systeme (mit der Autopoiese als Grundprinzip des Lebens); die kognitiven Systeme (insbesondere die Einzigartigkeit menschlicher Kognition) und schließlich die sozialen Systeme (und hier insbesondere den ökosystemischen Ansatz).Im 3. Kapitel befasst sich Lindemann mit Wahrnehmung und Bewusstsein. In den darauf folgenden beiden Kapitel ist die kognitive und die subjektive Entwicklung Thema, wobei die kognitive Entwicklung als interner Ordnungsprozess betrachtet wird, während die subjektive Welt als soziale Konstruktion gesehen wird.  Darauf folgend behandelt der Autor synergetische Interaktions- und Änderungsmodelle., triviale und nicht-triviale Systeme. Die beiden abschließenden Kapitel  gehören dem praktischen Handeln. Einerseits wird die Dreiheit Ethik, Moral und  Recht erörtert und andererseits wird das Verhältnis Konstruktivismus und Ethik beleuchtet.

 Viele den komplexen Inhalt klärende grafische Darstellungen (meist  einprägsame Schemazeichnungen zur Darstellung von Wirkzusammenhängen)  durchziehen das ganze Buch. Als Einführungsbuch empfiehlt es sich auch wegen seiner klaren Sprache – aber hier darf man sich nicht täuschen,  hinter dem verständlichen  Text steckt meist keine einfache, sondern eine komplexe Fragestellung und eine  herausfordernde Argumentation!

 Manches könnte noch erwähnt, erläutert werden, etwa: Warum eine subjektivierende Ausdrucksweise gewählt wird, z.B. wird der Konstruktivismus-Pionier Glasersfeld  zitiert  “Ein Schlüssel passt, wenn er das Schloss aufsperrt. Das Passen beschreibt die Fähigkeit des Schüssels, nicht aber das Schloss selbst“ (Lindemann , Seite 37).“ (Würde  man von der „Eignung“ statt von der „ "Fähigkeit „ sprechen, wären die Faszination und  Irritation nicht vorhanden, sondern nur ein trivialer Zusammenhang, nämlich, dass ein für bestimmte Zwecke angefertigtes Instrument diesen Zwecksetzungen entspricht. Ähnlich verhält es sich mit dem  Schloss, das aber hier nicht fokussiert  wird. ) Ein zweites Beispiel: “…zielt letztlich auf eine veränderte Legitimationspraxis ab, die den verschiedenen Praxisfeldern nicht nur die Verantwortung …zuspricht..“(Seite292)  Ein Praxisfeld bekommt Verantwortung zugesprochen? Kann ein Praxisfeld  Verantwortung übernehmen?  

An vielen Stellen des Buches wird eindringlich beteuert, dass man die Theorie des Konstruktivismus unberührt  von praktischen Handlungsempfehlungen  rein erhalten muss.  .  Als Begründung für die Praxis- Enthaltsamkeit wird z.B.angeführt, der Boden für eine Handlungsableitung sei zu unterschiedlich , als dass man ein stabiles Therapiegebäude darauf bauen könnte:  Nicht die Mannigfaltigkeit ist das Problem -man kann ja die jeweilige Bodenbeschaffenheit mit dem  Anspruch der Ableitbarkeit von richtigem Handeln  bewusst konfrontieren- sondern der Schritt von der Beobachtung zur Vorschrift. Oder wie es die alte Formel ausdrückt, "von der Deskription  zur Präskription“.  Es bleibt allerdings ohnehin nicht bei der Beschreibung, sondern man taucht ein in den  fortlaufenden Austauschprozess zwischen den Wirkungsebenen Ausgangssituation, Erklärungswissen, Orientierungswissen, Handlungswissen, Handlung, Handlungsfolgen. Nur sollte das bewusst geschehen. Dazu ist auch die Einnahme einer Position notwendig.  Auf Seite 250 unterscheidet der Autor drei Positionen: 1) die Ableitung von Handlungsanweisungen  aus dem Konstruktivismus ist möglich,,2) die strikte Trennung von konstruktivistischer Deskription  und Praxisimplikationen ist erforderlich, und schließlich 3) einen Ausweg bietet das Anregungsverhältnis, das den Beobachter beeinflussbar zeigt, indem  Erkenntnisse, Modelle, Konzepte  etc. inspirierend oder auch irritierend wirken können.. Hier könnte ein kurzer  Ausflug in eine andere Wissenschaft Klärungsunterstützung liefern:  Das Konzept des Sozialen  Lernens, Imitationslernens, Modell-Lernens

Lindemann bietet eine Fülle von Anregungen! Hier konnten nur einige Schlaglichter auf die komplexe Welt des Konstruktivismus und der Systemtheorie geworfen  werden und auf den schwierigen Bau einer Brücke von der Erkenntnis zur eindeutigen Anwendung.  Nochmals sei auch hervor gehoben, wie Lindemann es schafft, schwierige Wechselwirkungen durch „einfache“ Grafiken zu veranschaulichen.  

Zum Coverbild: Es trägt den Titel „Porträt mit Fischen  04“ und zeigt möglicherweise die schon öfter beobachtete Praxis, eine irrationale Gestaltung in der Titelblattdarstellung quasi als kompensatorischen Akt für den sonst sehr rationalen Text zu vollziehen.  Zwei Fische „küssen“ einander und werden- je einer links seitlich und einer rechts seitlich wie in Brille vor das Gesicht gehalten, dass die Augen von Fisch und Mensch sich decken. einen angespannt-freundlichen  Eindruck vermitteln  und zusätzlich zum verbissen wirkenden Mund Hilflosigkeit und zugleich ein undefinierbares Lächeln  signalisieren. Allerdings könnte damit auch  „the fool on the hill“ (Beatles-Song) gemeint sein, dessen scheinbare Doofheit  ihm erlaubt, die  Welt (abgehoben von Realität) in ihrem Rotieren wahrzunehmen! 

 Fazit:: Lehrreich und lesenswert!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
27.10.2019
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/kommunikation-beziehung/detail/konstruktivismus-systemtheorie-und-praktisches-handeln.html
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