Hörst du die Elefanten brüllen. Und weitere psychologische Kinderbücher

Die vier besprochenen Exemplare der Reihe „Psychologische Kinderbücher“ sollen den Lesern/Leserinnen einen Zugang zu den Problemen und Lösungen einer komplexen Welt erschließen helfen.

PSYCHOLOGISCHE KINDERBÜCHER

Schaaf J, Frerich F, Hauck J, Klein-Reesink u Zahn L (2019): Hörst du die Elefanten brüllen. Ein Buch für Kinder, deren Eltern sich immer wieder mal streiten.  Psychologische Kinderbücher. Bern:  Hogrefe.

Weißflog J, Koecher LM, Ladkani S, Ngono S, Stöhr A  (2019):  Zwei Zimmer für Cleo. Wenn Eltern sich trennen und wie es danach weitergeht.  Psychologische Kinderbücher. Bern:  Hogrefe.

Bartling L, Buchner  L, Bendel Y, Kresse J, u Koy J (2019): Alles anders bei Familie Biber. Eine Geschichte für Kinder, deren Eltern von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Psychologische Kinderbücher.  Bern: Hogrefe.

Maleki A, Beham F, Böning M, Korfmacher A-K, Stracke u Wangenheim S (2019): Dunkle Farben im Wunderwald. Ein Buch für Kinder, deren Eltern psychisch erkrankt sind. Psychologische Kinderbücher. Bern: Hogrefe.

Die Psychologischen Kinderbücher entstanden bei  einer produktorientierten Kooperation der Phillips-Universität Marburg zwischen  dem Fachbereich für Psychologie und dem Institut für Bildende Kunst, Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaft. Der Prozess startete mit Zeichnungs-Entwürfen zu Kinderbüchern, die verschiedene psychologische Themen behandelten. Die gestalterischen Entwürfe der Kunstwissenschaftler wurden als Anreiz für Textbearbeitungen durch Psychologiestudierende eingesetzt und, da es sich bei den Themen um Wissenswertes über psychische Störungen handelte, entstanden, schreibt das Herausgeber-Team, psychoedukative  Bilderbücher. Es wäre interessant zu erfahren,  wie die Passung zwischen  vielen Worten und vielen Bildern und vielen Studierenden ermöglicht wurde, wie dieser Algorithmus zur Erzeugung psychoedukativer Kinderbücher entwickelt und eingesetzt wurde. Die Kinderbuchtexte  und – Illustrationen, sind ja Intuitionsprodukte der Studierenden (= Erwachsenen) und keine direkten Wiedergaben kindlichen Erlebens. Wie kommen die Kinder zum Wort? Es wäre fein, wenn diese Frage in den Erläuterungen der zukünftigen psychologischen Kinderbücher kurz beantwortet werden könnte.

Jedenfalls übt das entstandene Produkt  eine Faszination aus: Wort und Bild, Kognition und Emotion,  Primärprozesshaftes und Sekundärprozesshaftes werden miteinander verschränkt. Wer über Worte ohne Gefühl verfügt, kann durch die Bilder emotional „angereichert“ werden, wer  Gefühle ohne  Wort besitzt, kann Klärung erfahren durch die verbale Präzision.(Man denke an Kant: Begriffe ohne Anschauung sind leer, Anschauung ohne Begriffe ist blind).Es gibt imaginative Psychotherapien, die diese Wechselwirkung als zentralen Wirkfaktor betrachten.

Mit den oben angeführten vier Werken besitzt die Reihe „Psychologische Kinderbücher“ 9 Bücher, die sich allesamt auf wichtige Themen beziehen: Personenverlust, ADHS, Trennungsängste, soziale Ängste, sowie die oben angeführten Werke, die sich mit der Scheidungsproblematik, mit Elternstreitigkeiten, mit der Situation bei psychischer Erkrankung bei einem oder beiden Elternteilen, und mit Arbeitslosigkeit der Eltern befassen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die oben angegebenen vorliegenden vier Werke.

Die 4 Bücher haben einen gemeinsamen Aufbau:  Nach der Geschichte kommt ein Übungsteil „Mach mit“,  bewährtes  Wissen aus der Psychologie wird vermittelt, praktische  Anleitungen folgen, wie z.B. Streitregeln, eine Gefühlsuhr bauen und verwenden.  Man lernt  auch Fehler kennen, z.B. im Band „Hörst du die Elefanten brüllen“,  die wenig hilfreichen Strategien der verschiedenen „Tiere“ bei Elternstreitigkeiten. 
Wichtig ist die Realitätsbezogenheit, „Richtigkeit“, der Texte. Geschichten sollten Weltwissen vermitteln und daher jede nicht notwendige Exkursion in die Fiktion meiden. Ein Beispiel für schwächere Realitätsbezogenheit aus „Hörst du die Elefanten brüllen“: In der Geschichte nimmt sich ein Adler der Springmaus, der Protagonistin, an. Man zittert dem Augenblick entgegen, wenn – wie im Dschungelbuch die Schlange – der Adler die Maske seiner Freundlichkeit fallen lässt und sich dem Verzehr von Kleinsäugern widmet. Beim Steinadler wird explizit die Maus als Nahrungsbestandteil genannt. Also wäre er zum Fürchten. Aber nein, der Adler geht ganz behutsam mit der Maus  um. Wird hier die über-lebenswichtige Vorsicht gegenüber Unbekanntem vernachlässigt? Was könnte man an dieser Stelle mit den Kindern besprechen? Sollte  man den Kindern das friedliche Zusammensein von Maus und Adler irgendwie erklären,  z.B. „ Weißt du, das  ist eben in einem Märchen möglich: weil der Adler so weise ist, spielt die Biologie keine Rolle mehr und  Adler und Maus kennen einander schon lange und vertrauen einander.“  Aber das vorliegende Buch ist kein Märchenbuch, sondern ein psychologisches Kinderbuch.  Zwar ist es sinnvoll, den Unterschied zu beschreiben, wie z.B. die Integration psychologischer Forschunggsergebnisse sowie die größere  Realitätsbezogenheit der psychologischen Kinderbücher. Aber die Tiere in den Büchern sind nicht biologisch, sondern symbolisch zu verstehen. Ihnen werden menschliche Eigenschaften zugeordnet. Vielleicht müsste man drei Interpretationsebenen unterscheiden und von einer Märchenebene (unbewusst, undeutlich) und einer Sachebene (bewusst,eindeutig) und dazwischen  von einer Symbolebene (teilbewusst, vieldeutig) sprechen! Auf der symbolischen Ebene ist eine Freundschaft  zwischen  Maus und Adler durchaus möglich. Das macht die Auseinandersetzung mit dem richtigen Verhalten gegenüber Unbekanntem nicht obsolet. Es kommt eben darauf an, welche Interpretationsebene man wählt.

Nun ein Beispiel für die Richtigkeitsüberprüfung: Auf Seite 54 wird gesagt, dass man so traurig sein kann, dass einem die Krokodilstränen nur so über das Gesicht rollen. „Krokodilstränen“ sind aber keine echten Gefühlsäußerungen, für die geworben wird, sondern ein geheuchelter Gefühlsausdruck.

Interessant ist die Idee, verschiedene Tiere  aufzusuchen und ihre Strategien in misslichen Streit-Situationen kennen zu lernen: z.B. das Kopf in den Sand stecken wie der Vogel Strauß,  die Übernahme von Elternpflichten wie die Ameisen, das vermeintlich notwendige Fällen von eindeutigen Entscheidungen wie die Zebras glauben usw. Manchmal wird  zu Trostzwecken ein Sight-Seeing fremden Leids veranstaltet („Sieh mal, dem/der geht es noch viel schlechter als dir!“).  Die Autorinnen und Autoren widerstehen hier dieser Versuchung und bleiben beim einzelnen Leser, bei der einzelnen Leserin und seinen/ihren Verhaltensmöglichkeiten.

Der Rezensent war Jahrzehnte u.a. beratend bei Eltern-Kind –Fragestellungen bzw., familiären Krisen, sowie bei Paarproblemen tätig und kann bestätigen, dass die Schilderungen der Dynamiken zwischen scheidungswilligen Eltern und ihren Kindern in dem Buch“ Zwei Zimmer für Cleo“ ein hohes Maß an Authentizität besitzen. Das Buch führt  den Leser in das Zwielicht von Schuldgefühlen der Kinder, die sich als Ursache der elterlichen Zerwürfnisse empfinden. Es lässt uns teilhaben an den verzweifelten Versuchen des Kindes, sich im Wald zusammen mit einem Freund zu verstecken oder einen Liebesbrief an den Papa zu formulieren.  Es gelingt, im Text die schmerzliche Atmosphäre tief verletzter Gefühle zu  schildern ohne Beschönigung durch ein vorzeitiges und unrealistisches happy end. Wertvoll ist  der Einblick in die für Scheidungsprobleme wichtige Bindungstheorie.

 „Alles anders bei Familie Biber“ ist eine Geschichte für Kinder, deren Eltern von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Dieses Buch aus der Reihe „Psychologische  Kinderbücher“ schildert das schmerzvolle zur Kenntnisnehmen des  Arbeitsverlustes, die Ängste und Sorgen in Bezug auf den von Armut eingeschränkten Haushalt. Sehr wertvoll ist die sachliche und zugleich schonende, umfassende Information über Ursachen und Folgen der Arbeitslosigkeit und die gegenseitige Ermutigung, trotz der schwierigen Ausgangsposition positiv zu denken.  Dazu gehört auch eine Fantasiereise in den Wald, die ein glückliches Erlebnis darstellt. Aber Sorgfalt beim Durchführen einer Fantasiereise ist geboten. Sie ist zwar ein wertvolles Mittel zum Stressabbau, jedoch ist die individuelle Varianz beim Verarbeiten von Reizen zu berücksichtigen. D.h. z.B. dass die Vorstellung von Schwere nicht  für jeden Menschen gleichartig entspannend wirken muss. Außerdem kann bei depressiven Menschen die heitere Fantasiereise als befremdend abgelehnt werden. Hier ist sehr behutsames Vorgehen ratsam. Außerdem ist zu beachten, dass ein Eskapismus vorliegen kann, eine Flucht aus der Realität.

„Dunkle Farben im Wunderwald“  beschreibt das Erleben und Verhalten von psychisch kranken Eltern und das Erleben und Verhalten von betroffenen Kindern. Das Buch schildert nicht nur die Belastung, unter der die Kinder kranker Eltern  real leiden  (weil sie nun elterliche Pflichten übernehmen müssen) sowie die Angst, vielleicht in absehbarer Zeit ebenso krank  zu  sein, und andere ganz konkrete Zukunftsängste. Das Buch schildert hervorragend, was unter psychisch, Psychotherapie etc. zu verstehen ist, wo man Hilfe findet (alle vier Bände haben einen Informationsanhang über hilfreiche Kontaktstellen), bringt Tipps zur Gestaltung der Interaktion zwischen Kindern und kranken Eltern. Hilfreich ist die Beschreibung häufiger seelischer Probleme: Das wachsende Bedürfnis des Bären nach Honigwein, die traurige Schnecke, das immer ordnende Eichkätzchen, der Angsthase.

Nun noch ein Wort zu den Illustrationen. Da der Rezensent über keine kunstwissenschaftliche Fachausbildung verfügt, kann er nur auf sein inneres Gefühlsecho eingehen. Und dieses vierfache Echo heißt „ Prädikat wertvoll“: Jeder dieser vier Problemgeschichten ist ein anderer Illustrations- Stil zugeordnet worden, der hervorragend zu den Texten bzw. zur jeweiligen Pathologie passt, wie die im Folgenden beschriebenen Skizzen zeigen werden:

Die brüllenden Elefanten usw. werden durch schattenrissartige Überlagerungen dargestellt, es entstehen globige Schichtbilder des Seelischen; diese Darstellung von innerem Erleben, von Verdrängung und Transparenz ist beunruhigend.

 Cleos Welt droht eine Destruktion durch die traumatisierende überfallsartige Konfrontation mit der nicht mehr „heilen“ Welt. Die Illustrierung zeigt eine Unmissverständlichkeit der klaren Linienführung neben einem verwirrten „wuscheligen“ Schopf. Zugleich fasziniert die comicartige, ausdrucksstarke Darstellung von intensiven Gefühlen in ihrer Fluktuation. Die Art der zeichnerischen Gestaltung bringt die Problematik auf den Punkt, zeigt die „Pointe“, zugleich zeigt der Wuschelkopf die Irritation an.

Die Zeichnungen bei der Familie Biber bestechen durch ihre formale Ästhetik, die zugleich etwas abgehoben wirkt.  Die Zeichnungen bringen die Distanzierung als Hilfe bei negativen Emotionen zum Ausdruck, zugleich soll das Gefühlsleben erhalten bleiben, das erfordert  Zurückhaltung, Disziplinierung. Denn es soll keine Dissoziation stattfinden, Abspaltung ist keine Lösung. Ebenso soll die Verbindung zur Arbeitswelt nicht abreißen. Und auch die Emotionalität nicht dahinsiechen.

„Die dunklen Farben im Wunderwald“ bringen durch ihre Intensität und mitreißende Lebhaftigkeit den Umstand zum Ausdruck, dass psychotisches Erleben oft durch eine Überbetonung der Reaktion auf Sinnesreize gekennzeichnet ist. Die psychotische Situation wird nicht nur als echt erlebt, sondern als besonders echt, dies kommt in den sinnlichen Bildern vom Wunderwald mit ihrer Eindringlichkeit und intensiven Aufmerksamkeit  nachhaltig zum Ausdruck. Das zeigt auch die Schwierigkeit auf, zwischen verschiedenen Realitätserlebnissen zu unterscheiden bzw. zur „ wirklichen Realität“ zu kommen. Wenn aber eine gemeinsame Perspektitve gefunden werden konnte, kann die Sprachlosigkeit überwunden werde.

Die vier besprochenen Exemplare der Reihe „Psychologische Kinderbücher“ sollen den Lesern/Leserinnen einen Zugang zu den Problemen und Lösungen einer komplexen Welt erschließen helfen. Die Texte wenden sich – nicht immer deutlich abgegrenzt voneinander-  an Kinder und Erwachsene.  Die Texte ermutigen zum Mitmachen bei Basteleien, Spielen, Fragebögen, Verhaltensregeln, Interaktionen zwischen Eltern und Kinder  u.v.a.m.

Von fachlicher Seite sei darauf hingewiesen, wie wichtig auch bei Problemthemen das Überwiegen positiver Gestaltung ist: Bunte Seiten, freundliche Gesichter, Akzentuieren positiver Aspekte..Die vorliegenden Bücher zeigen hier Unterschiede.

Dem originellen Beginn dieses Projektes steht eine spannende Zukunft gegenüber!  Jedenfalls machen die vier Bücher mit den Themen  (Streit, Scheidung, Arbeitslosigkeit, seelische Erkrankung der Eltern) neugierig auf die Fortsetzung!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
12.08.2019
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/kommunikation-beziehung/detail/hoerst-du-nicht-die-elefanten-bruellen-und-weitere-psychologische-kinderbuecher.html
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