Wenn Lukas haut
Das Buch gliedert sich in 10 Kurzkapitel: In den ersten drei Kapiteln wird für das systemische Vorgehen plädiert: sei es, dass das Interesse darauf gelegt wird, was zwischen Eltern und Kind vorgeht, sei es das Eintreten für eine partnerschaftlich gemeinsame Lösungssuche von Eltern und Experten, ...
Buchtitel: Wenn Lukas haut. Systemisches Coaching mit Eltern aggressiver Kinder.
Autorinnen: Hergenhan A
Verlag: Springer
Erschienen: 2011
...seien es Techniken wie zirkuläres Fragen, Spiegelung oder die Externalisierung von positiven und negativen Selbstattributionen in Form eines Schlecht-Denk-Teufels oder Gut-Denk-Engels. Kapitel 4 erklärt das Spezifikum des systemischen Vorgehens am betonten Berücksichtigen von Beziehungen und Zusammenhängen, von der Suche nach Unterschieden statt von Gründen (d.h. nicht fragen: warum ist die Situation jetzt so? Sondern: Wann ist/war sie anders als jetzt?), von der Suche nach Lösungsmöglichkeiten, Ressourcen und Kompetenzen (wobei die Eltern als Informanten und Aufklärer betrachtet werden und der Coach nur eine begleitende, allenfalls für die eigenen Ressourcen sensibilisierende Funktion innehat, der den Übergang von der Problemsprache zur Lösungssprache fördert). Beziehung, Unterschied, Lösungsmöglichkeit und Kompetenz bilden das Akronym BULK, das als Garant für die systemische Vorgangsweise gilt. Im Kapitel 5 wird auf die Notwendigkeit klarer Reaktionen der Eltern auf aggressives, verletzendes Verhalten ihrer Kinder hingewiesen. Kapitel 6, 7 und 8 bringen weitere wichtige Konkretisierungen und Beispiele zum systemischen Ansatz: die systemische Ergebnisoffenheit, das Erlernen von Beziehung (wo Eltern entscheidend ihren Kindern helfen können und müssen), die Umsetzung der im BULK genannten Voraussetzungen in konkreten Leitideen. Der Autor hat außerdem Basalkriterien für den Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern erarbeitet ( in: Aggressive Kinder? Systemisch heilpädagogische Lösungen. 2010, Dortmund. modernes lernen) und fühlt sich nun aufgrund von vielen Zuschriften von Heilpädagogen, Erziehern, Sozialpädagogen und Psychologen (S 11) ermutigt, diese sechs Basalkriterien ( Persönliche Präsenz, Gesprächsführung und Respekt, Ausdrückliche Identifikation der Ressourcen bzw. der Fähigkeit, Positive Beachtung des Symptoms, Lösungsentwurf der Eltern, Einbau des elterlichen Bezugssystems) auf die systemische Kooperation mit Eltern anzuwenden. Kapitel 9 und 10 reflektieren die Ideen des Buches in einem klärenden Rückblick und einer kritischen Überprüfung, inwieweit die Leitideen und das aufzuspürende Expertenwissen der Eltern zum Tragen kamen. Ein ambitioniertes Buch, das viele Ideen anbietet und hilft, das eigene Beratungsverhalten zu überdenken!
Ein Buch, das aber auch einige kritische Fragen aufwirft. Z.B.: 1) Geht systemisches Denken mit einer Entdifferenzierung einher? Wenn auch nicht expliziert, so dürfte der intendierte Adressatenkreis wieder die oben erwähnten Professionen betreffen, deren Zusammenarbeit "Elterncoaching" genannt wird. In der Kutsche (engl. coach) sitzen die Experten im lebhaften Gedankenaustausch. Sie sitzen gleichzeitig am Steuer und sind mitfahrende Reisende (S 13). Hier melden sich beim Rezensenten schon leise Zweifel, ob die Kutsche überhaupt eine Richtung einschlagen wird. Der Autor schreibt selbst:" Zu diesem Ziel gibt es allerlei Wege, wobei sich oft gar keine feste Route finden lässt. " (S 13) Ob die vielen Kutscher gleich zu Beginn der Debatte so konsensual sind, dass sich die Kutsche auf einem gemeinsamen Weg in Bewegung setzt? Und so kooperativ:" Die Fahrgäste steigen aus, heben und schieben die Kutsche ein paar Meter. Wir arbeiten also vor allem dann intensiv zusammen, wenn es den Anschein hat, wir kämen nicht weiter." (S 13f). Die gemeinsame Wahrheitsfindung gemahnt an den Optimismus von Habermas. Es gibt aber Erfahrungen, die besagen, dass auch und besonders in multidisziplinären Teams ein Mitglied die Verantwortung als Fallführender zu übernehmen hat, um die einzelnen Meinungen zu einem Gesamtkonzept zu integrieren. Dies aber erfordert wiederum, dass eine bestimmte Perspektive als grundsätzliche gewählt wird. Davon spricht aber der Autor nicht. Vielleicht, weil er sich in einer Fußnote auf Seite 27 der Meinung anschließt, im Rahmen einer systemischen Sozialen Arbeit werde die prinzipielle Unterscheidung von Therapie, Beratung, Pädagogik und Sozialer Arbeit hinfällig. So, als ob systemische Ansätze mit einer Entdifferenzierung einhergingen. Im Bild: Wenn sich die einzelnen Musiker zu einem Konzert zusammensetzten, verlören sie ihre Identität als Streicher, Bläser etc. Dabei lehrt schon die Biologie (z.B. der Ameisenstaat), dass die Arbeitsaufteilung, also die funktionelle Differenzierung, die Grundlage der Kooperation in einem größeren Ganzen darstellt. Diese Entdifferenzierung bekommt Rückenwind in der konsequent durchgezogenen Auffassung des Autors, dass Eltern ohnehin das nötige Expertenwissen besitzen, m. a. W. es gibt oder braucht keine Experten. So an vielen Stellen des Buches, zuletzt auf Seite 198: "Eltern brauchen nach meiner Meinung keine Erziehungsratgeber, die Vorschläge unterbreiten...Elternratgeber, so sehe ich das, wissen oft viel zu viel. Vom Katheder des Besserwissens herunter erlassen sie häufig Anweisungen, die angeblich Erfolge sichern." Experten fahren also mit der Planierraupe über die zarten Pflanzen des Elternwissens. Ob in anderen Bereichen das Expertenwissen auch so gefahrlos geleugnet werden könnte und z.B. bei einer Autoreparatur der Common sense des Autofahrers wichtiger als das Kraftfahrzeug-Expertenwissen ist? Ist das vorliegende Buch kein Ratgeber? Bringt es kein Wissen nahe, das vorher nicht so da war? Was ist es dann? Ach ja, beim Automechaniker handelt es sich um Handfestes, aber Psychologie, Pädagogik etc. das weiß man doch ohnehin mit dem Hausverstand. und der Autor weiß zusätzlich: Experten definieren gern und definieren sollte man nicht, weil es abgrenzen bedeutet (S 30). Daher könne man systemisches Wissen auch nicht lehren, sondern nur erzählen.(Ebd.)
2) Kein Krankheitsbegriff? In der Fußnote auf Seite 31 schließt sich der Autor der Meinung an, dass systemische Therapie keine Fehler und Krankheiten kenne wie dies in tiefenpsychologischen Verfahren gegeben sei. Dem ist entgegen zu halten: Sehr wohl gibt es Störungen, individuelle Lebensprobleme, Leidenszustände im psychischen System!
3)Das Akronym: Ein "recht unoriginelles Kunstwort" (Seite 32) ergeben die Anfangsbuchstaben der vier oben erwähnten systemischen Merkmale Beziehung, Unterschiede, Lösungsmöglichkeiten, Kompetenz, nämlich "BULK". Das Wort gibt es aber im Englischen und es bezeichnet so etwas wie die "breite Masse", was gerade als Aggregat kein Zentralbegriff des systemischen Denkens sein dürfte. Abgesehen davon hätte die bei der Zirkularitätsannahme erlaubte Umkehrung der Reihenfolge das systemisch sinnigere Wort "KLUB" ergeben, wobei jeder nachfolgende Buchstabe die Voraussetzung für den vorangegangenen bildet.
4) Kennen und Können: Im Buch werden verschiedene Gesprächstechniken erwähnt in einer Art und Weise, dass man vermeint, schon aufgrund der Lektüre die Technik leicht beherrschen zu können, der Sprung vom Kennen(lernen) zum Können scheint ganz leicht zu sein. Der Systemiker spiegelt wie der Gesprächstherapeut (S 35) und der Coach kann das auch - steht zwar nicht explizit, aber drängt sich auf.
5) Der Autor hält es für verantwortungslos, auf kindliche Aggressionen nicht zu reagieren (S 77). Das bewirke, dass sich das Kind wertlos und leer fühle. Hier denkt der Autor unsystemisch. Der Verhaltenstherapeut oder lerntheoretisch orientierte Lehrer, Pädagoge, der negatives Verhalten durch Nichtaufmerksamkeit löscht, lässt es ja nicht dabei bewenden, sondern sucht nach der kleinsten Chance zur positiven Verstärkung wünschenswerten Verhaltens. Also Ignorieren allein ist es nicht, das wäre im Sinne des Autors tatsächlich verantwortungslos. Und natürlich gilt es, einer Gefahr im Verzug vorzubeugen. Dennoch kann man der konsequenten Reaktion als Rückmeldung, die der Autor bei derartigen Aggressionen empfiehlt, vieles abgewinnen.
6) Eine lektorische Aufgabe ist das häufig verwendete "uns" statt "einander", z.B. auf Seite 90:" Wir bewältigen Aggressionen und verletzen uns nicht. Respektvoll begegnen wir uns."
Ob der Autor mit Steinen wirft, wenn er den Psychologen vorwirft, gern englischsprachige Vokabel zur Bedeutungssteigerung des Gesagten in ihre Sätze zu mischen (S 36) und selbst statt "elterlich" von "parental" spricht?
Abgesehen von diesen Diskussions-Anmerkungen erhält der Leser aber viele Anregungen, etwa zur Allparteilichkeit, zur muttersprachlichen Lösungssprache (sich an die Idiomatik der zu coachenden Personen anpassen), zur überlegten Einsetzung von Bildvergleichen - all dies veranschaulicht durch ein durchgezogenes Fallbeispiel. Allemal lesenswert!