Vergessen, vergelten, vergeben, versöhnen?
Bei diesem Buch empfiehlt es sich, beim Cover auf das Kleingedruckte zu achten. Der Titel ist verlockend und scheint zu verheißen, dass der ev. traumatisierte Leser durch die Lektüre Anhaltspunkte erhält, wie er oder sie mit dem Trauma, nach dem Trauma weiterleben soll bzw. kann. Wäre da nicht...
Buchtitel: Vergessen, vergelten, vergeben, versöhnen? Weiterleben mit dem Trauma. (Psychoanalytische Blätter)
Autorinnen: Karger A
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2012
...der Hinweis "Psychoanalytische Blätter": Die Autorinnen und Autoren wenden sich nicht an hilfesuchende Leser, sondern diskutieren auf einer Metaebene mit teils sehr komplexen, teils auch sehr gewagten Gedankengängen etwa über die interpersonelle, soziale, intrapsychische und metaphysische Dimension der Versöhnung und die psychologische, psychoanalytische, philosophische und theologische Perspektive des Versöhnungsgeschehens; über die Anerkennung der Schuld als notwendige Voraussetzung von Verzeihung und Versöhnung; über Racheimpulse als Ausdruck regulativer Psychodynamik und Racheverzicht als kulturelle Forderung; über soziologische und psychoanalytische Überlegungen zur Rache als Wunsch und Unterstellung; über die Schwierigkeit, aber auch Notwendigkeit der Dichotomie von Täter und Opfer; über die Aussöhnung mit der Fremdheit des Traumas, über die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen und der Hinführung zum Vertrauen in die Mitwelt; über die Art, wie man über Folter sprechen kann; über die Ethik der Erinnerung und über die Fallstricke der Versöhnung.
Das Buch ist in weiten Passagen trotz der thematischen Komplexität gut lesbar und enthält viele anregende Gedanken wie z.B. die Erwähnung der sekundären Abwehrmechanismen, die den Prozess der Vergebung behindern, z.B. das Festhalten am Ärger, um sich mächtig zu fühlen (S 18) - ergänzbar wäre hier der Krankheitsgewinn durch Nichtvergebung, etwa in Form eines prolongierten Entschädigungsanspruches. Ebenso interessant ist die Aufzählung der Abwehrformen gegen das Schuldbewusstsein, z.B. die Abspaltung ganzer Persönlichkeitsteile, die die Ausschaltung eines ursprünglichen Gewissens ermöglicht. Andere Möglichkeiten bietet die Schulzuweisung z.B. das blaming the victim, bei welchem dem Opfer die Schuld zugewiesen wird (S 40ff).
Recht eindrucksvoll ist die Prozessbeschreibung einer Täter-Opfer-Gruppe, in der es zu wechselseitigen Zuschreibungen, Identifikationen, Projektionen und zu Neubestimmungen von Täter- und Opferanteilen und zur Differenzierung von Schuldgefühl und realer Schuld kommt.
Bewegend ist auch die zitierte Ballade von C.F.Meyer "Die Füße im Feuer", in der die Rachegefühle beklemmend geschildert werden, die der Burgherr gegenüber dem Mörder seiner Frau spürt, als dieser das Gastrecht beansprucht. Es ist wichtig, die Rachegefühle nicht zu tabuisieren, sondern sich bewusst zu machen, um sie dadurch destruktivem Agieren zu entziehen. Interessant sind die Erklärungsversuche zur Rache (S71-75), z.B. Rache als Wiedergewinnung oder Wiederherstellung von Macht und Kontrolle oder aus Solidarität, wobei als wichtig angesehen wird, sich nicht der eigenen Rachegefühle als Analytiker enthoben zu glauben, sondern sich zuzugestehen, "that insight can gain some, though never complete, dominance over terror." (S 78).
Einleuchtend sind zwei konkurrierende Bedürfnisse in Auseinandersetzung mit kriegerischen Konflikten: Die Hoffnung der Täter auf Vergessen und Versöhnen, um der Strafe zu entgehen. Die Hoffnung der Opfer auf die Bestrafung der Täter und die Wiederherstellung eines echten Rechtsverhältnisses. Obwohl die beiden Lösungsmodelle "Schweigen und Vergessen" und "Recht und Wahrheit" diametral einander gegenüberstehen, darf keines davon verabsolutiert werden.(S 91ff).
Wenn sich der traumatisierte Mensch nicht mehr nur als Patient versteht, sondern als Respondierender, dann kann das Widerfahrnis, das radikal Fremde des Traumas bewältigt werden (S 111). Inszenierte Versöhnung zwischen Täter und Opfer auf kollektiver Ebene ist kaum möglich, wohl aber kann eine Wahrheits- und Versöhnungskommission einen belastbaren Rahmen für den Wechsel zwischen individueller und kollektiver Schuldbearbeitung bieten. Es geht im kollektiven Kontext weniger um die Wiederherstellung von Vertrauen in den Täter als um die Wiederherstellung des Vertrauens in die Mitwelt. (S 128f).
In die gleiche Kerbe schlägt ein weiterer Beitrag, der dies an einem Film demonstriert. Der Polanski-Film "Der Tod und das Mädchen" schildert die Wiederbegegnung einer Frau mit ihrem Peiniger. Dieser klopft an ihr Haus (nach einer Autopanne) und sie erkennt ihn irgendwie, den sie in der Folter und Vergewaltigung immer nur riechen und spüren konnte, weil ihre Augen verbunden waren. Sie zwingt ihn durch Todesandrohung zum Schuldbekenntnis und lässt ihn dann frei. Im Konzertsaal sieht sie ihn wieder, der "einen noch immer begehrenden, ja beherrschenden Blick auf Paulina wirft und wir in ihrem Gesicht Schrecken und Furcht zu sehen glauben" (S 140). Es geht also nicht um "Versöhnung zwischen Täter und Opfer, sondern um die Versöhnung beider mit dem Sozialen, mit der Welt - sei es um der Möglichkeit willen, freiwillig in einem gesellschaftlich geteilten Raum Schubert zu hören." (S 146). Diese Interpretation der Schlussszene des Films kann aber relativiert werden, so wäre es durchaus denkbar, dass Paulina erschrickt über die Normalität des Monsters, denn sie sieht den Peiniger als Familienvater mit Frau und Kindern, denen er geduldig auf ihre vielen Fragen antwortet, in einer Loge sitzen. Und sein Blick zu ihr könnte ebenso die Bitte enthalten, die guten Teile in ihm anzuerkennen. Oder sein Blick könnte besagen: Glaubst du noch immer, dass ich der Peiniger von damals sein kann, wenn du mich so im Kreise meiner Familie siehst?
Die zwei abschließenden Beiträge sieht der Rezensent mit einer gewissen Sorge. Der Beitrag über die Ethik der Erinnerung enthält wichtige Forderungen wie z.B." Erinnerung als Fortführung guter Beispiele: ehrendes Gedächtnis für diejenigen, denen wir zu Dank verpflichtet sind. Die eigene Tradition ist zu loben!" Erinnerung an Opfer der Geschichte, Anknüpfung an Ungetanes der Vergangenheit (ebd.). Aber die Anbindung der Vergangenheit an die Gegenwart und Zukunft nur über die "Zeugenschaft" (eines Glaubwürdigen, der zwischen Fiktion und Faktum sein Zeugnis ablegt) zu bewerkstelligen, erscheint doch in der Auseinandersetzung mit Geschichtlich/Historischem eine hinterfragbare Basis.
Der letzte Beitrag befasst sich mit den "Fallstricken der Versöhnung". Er schreibt der Versöhnung einen fundamentalen Abwehrcharakter zu. Die Versöhnung "wird allzeit intersubjektivistisch oberflächlich bleiben, denn mit dem Kotau vor unseren selbstgeschaffenen Kulturartefakten unseren scheinbar entgötterten Göttern, ist es expiativ überhaupt nicht getan" (S 169).Versöhnung ist nichts anderes als ins Gegenteil verkehrte Rachefeldzüge (S 170). Fragen werfen nicht so sehr diese und andere Thesen auf, als vielmehr der sich selbst permanent von Wort zu Wort überbietende Stil, der Triumpf der pittoresken Ausdrucksgebilde über ihre jeweiligen Nachbarn. Welche Fragen? Ist diese Form der Mitteilung absichtlich gewählt, um die Dekonstruktion der Versöhnung noch intensiver zu betreiben? Oder ist der Stil Hinweis auf eine Abwehr des Themas der Versöhnung (und ihres Abwehrcharakters)?
Insgesamt hat der Herausgeber einen bunten Fächer zu einer Thematik entfaltet, die bislang noch wenig psychoanalytische bzw. kulturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat. Wer es gelesen hat, wird sich differenzierter, bewusster auseinandersetzen können mit Vergessen, Vergelten, Vergeben, Versöhnen!