Stillsitzen verboten. Mit Jungs richtig umgehen.

Der Titel des Buches klingt wie eine paradoxe Intervention: Man verbietet das gewünschte Verhalten! Hier aber ist die Aufforderung „Stillsitzen ist verboten!“ wirklich das Programm!

Stillsitzen verboten

 

Autor: Krestel T

Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen

Erschienen: 2018

 

Zum Inhalt

Krestel T  (2018): Stillsitzen verboten. Mit Jungs richtig umgehen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Der Autor ist Sozialpädagoge, Mediator in Strafsachen und zusätzlich qualifiziert für die Verbindung von Sport  und Sozialer Arbeit. Praktisch befasst er sich mit Konfliktmanagement, sowie Prävention von Kriminalität, Gewalt und Sucht.

Das Konzept des Buches wurde aus der praktischen Erfahrung mit zwei ministeriell geförderten Projekten  in Zusammenarbeit mit dem deutschen Roten Kreuz und dem Diakonischen Werk im Evangelischen Kirchenbezirk Otenau entwickelt.

Das Buch besteht aus vier Teilen:-Im ersten Teil wird die präferierte Arbeit mit Jungen teils mit quantitativen Argumenten untermauert (z.B. Jungen haben ein Vielfaches an Gewalterfahrungen  verglichen mit Mädchen, sie zeigen häufiger delinquentes Verhalten, begehen dreimal so viel Suizide), teils mit inhaltlichen Begründungen unterstützt: Jungen haben ein anderes, exploratives Lernverhalten, höhere Risikobereitschaft, einen stärkeren Bewegungsdrang, mehr rangorientierte Auseinandersetzungen (beim Beobachten von bewegungsorientierten Spielplätzen - sog. Motorik-Parks – konnte der Rezensent keine zahlenmäßige Überlegenheit der Jungen feststellen. Auch die Art und Weise, wie die Bewegungslust abgearbeitet wird, konnte nicht als unterschiedlich beurteilt werden, zumindest bei Kindern im Alter bis etwa 12 Jahren. Das Konzept von Krestel setzt allerdings erst bei 12- 16jährigen an).  Die folgenden Bemerkungen des Autors  regen besonders  zum Nachdenken an: 1) Jungen können ihren Bewegungsdrang oft nur virtuell ausleben.  2) Außerdem wachsen immer mehr Jungen ohne Vater auf und daher ohne Rollenvorbild, daher auch ohne Abgrenzungsmöglichkeit. 3) Die soziostrukturellen Erklärungsmodelle sehen in Gewalthandlungen einen Protest gegen erstarrte Wertordnungen, gegen die Hilflosigkeit beim Realisieren von als wichtig empfundenen Werten und als Ausdruck einer subkulturellen eigenen Wertordnung. 4) Der Konstruktivismus erweitert das Verständnis von Lernprozessen, sei dies z.B. die Unterscheidung von Wirklichkeit und Wahrheit oder die Nachvollziehbarkeit von Stigmatisierungen.5) Jungen neigen verstärkt zum Rückfall in lineare (vereinfachte)Verhaltensmuster (hier möchte der Rezensent anmerken, dass Angriff, Flucht etc. so basale Schablonen darstellen, dass ihr Vorhandensein bei beiden Geschlechtern in gleicher Stärke anzunehmen ist; dass Jungen schneller in den archaischen Überlebensmodus und damit in lineares Denken, Erleben, Verhalten umschalten, ist im vorliegenden Buch nicht ausreichend belegt). Statt der Gegenüberstellung von linear und neutral (d.h. distanziert) wäre das Begriffs-Paar Impulsivität und Spontaneität wahrscheinlich nachvollziehbarer. 6) Das Störverhalten ADHS kommt aufgrund von Entbehrungen in der frühen Zweierbeziehung zustande; das Erleben von Gemeinsamkeit im Miteinander-Lernen, Miteinander-Spielen mit einer Elternfigur fehlt und wird später störend in Gruppen meist gegenüber den Erwachsenen eingefordert. So in etwa der Neurobiologe Hüther, der – so zumindest kommt es beim Rezensenten an -  in diesem Buch eine Legitimierungsinstanz für pädagogische Aussagen darstellt. Die psychoanalytische Grundlagenforschung kennt diesen Zusammenhang schon lange: Wenn auf die Dualunion Elternteil-Kind keine Triangulierung stattfindet, dann ist die Wahrnehmung immer an  ein Primärobjekt gebunden.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Konstruktivismus und seinen Auswirkungen auf Unterricht und Erziehung auf Lernprozesse und Gruppenarbeit. Teil 3 belegt die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen in Bezug auf mehrere Parameter, bringt grundlegende Überlegungen zur Gruppenarbeit und beschreibt u.a. den Kreis der Zuversicht, ein Uralt-Schema der amerikanischen Bevölkerung: Zugehörigkeit, Unabhängigkeit, Meisterschaft, Großzügigkeit. (Der Vergleich mit den „Big Five“ wäre sicher interessant).

Hauptteil des Buches sind die rund 80 Seiten dichter Information und Anleitung zu einleitenden bzw.  ausleitenden Ritualen, Einstiegsübungen, zentralen Übungen ( mit stufenweiser Anhebung der Schwierigkeitsgrade), sowie Themenimpulse z.B. zum Umgang mit Wut und Aggression, zum Umgang im Team, sowie Zukunftsbilder Mann und Frau, Kriterien des Mannseins, Liebe, Sex und Porno, Sucht und Drogen, negative Eigenschaften. Jede Übung hat einen Titel, eine Nummer und eine Kurzangabe zur Zahl der Teilnehmer und zu den benötigten Materialien, spezifische Hinweise zur Durchführung.

Anregungen des Rezensenten:

·        Bitte die Existenz der Anrede mit „Sie“ nicht ignorieren, siehe z.B:  Seite 84 oberes Drittel. Ganz anders das obere Drittel von Seite 58. Man atmet durch!

·        Übungen mit hohem Gefahrenpotential „entschärfen“ (z.B. beim sich von einer erhöhten Stelle aus rückwärts in die Arme anderer Fallen Lassen – reichlich sprungabfedernde Matratzen verwenden, stufenweise die Erhöhung steigern, ev. nach vorne fallen lassen mit Sichtkontrolle etc.

·        Übungen nicht beenden, wenn erst der Anlauf genommen wurde im Erkennen von Gefühlen, im Benennen von Gefühlen. Nicht die Einzelnen damit stehen lassen, dass ihnen negative Gefühle bewusst wurden. Es ist gut, wenn wir nicht gleich neue Power Games anschließen, sondern die Übungserfahrung ausführlich besprechen.

·        Abbau von negativen Energien nicht nur im Wettkampf suchen, sondern auch in kräfteraubenden Einzelübungen.

·         Es ist gut, wenn wir nicht nur Kraft als „Power“ definieren, sondern auch Geschicklichkeit, Ausdauer etc. als Dimensionen der Power Games. Bei einer einseitigen Kraftorientierung zementieren die unterschiedlichen Übungen immer die gleiche Macht- oder Ohnmachtserfahrung.

·        Die Qualifikation des Trainers bzw. die für die Leitung von Power Games nötigen Kenntnisse (z.B.  Bewegung, Rhythmik, Sport , Gruppenleitung etc.) sichtbarer machen.

·        Es gibt im Verlauf der Geschichte immer wieder Phasen, bei denen die Gemeinsamkeit (z.B. Koedukation) betont wird, und Phasen, bei denen die Unterschiede (geschlechterspezifische Settings) im Vordergrund stehen. Welche kulturellen Vorgänge fördern dzt. das diversity-Denken? Wie sind die vermuteten Weiterentwicklungen?

Der Titel des Buches klingt wie eine paradoxe Intervention: Man verbietet das gewünschte Verhalten! Hier aber ist die Aufforderung „Stillsitzen ist verboten!“ wirklich das Programm: Das Konzept der gewaltpräventiven, interkulturellen Power Games nimmt die Bewegungsfreude, die Suche nach Positionierung in einer Gemeinschaft, den Wunsch nach körperlicher Auseinandersetzung ernst und vermittelt dabei Grunderfahrungen mit konstruktiv genützter Aggressionsenergie. Das Buch gibt viele Informationen und Anregungen, wirft viele Fragen auf, gibt viele Antworten. Die Power Games fokussieren die eigenen Möglichkeiten, Mächtigkeiten – aber nicht im blinden Eifer und Konkurrenzkampf, sondern in spielerischer Auseinandersetzung – es sind eben power games! 

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Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
27.06.2018
Link
https://educationgroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/stillsitzen-verbotenmit-jungs-richtig-umgehen.html
Kostenpflichtig
nein