Philosophie der Palliative Care

Die Autoren schaffen es, die Praxis "frag-würdig" zu machen. Sie zeigen, dass es notwendig ist und sich lohnt, sich mit den impliziten und expliziten Leitlinien des professionellen Handelns auseinanderzusetzen, Ungenauigkeiten zu klären, unrealistische Erwartungen & Forderungen zu redimensionieren.

Buchtitel: Philosophie der Palliative Care
AutorInnen:  Randall F u Downie R S 
Verlag: Huber
Erschienen: 2014

Zum Inhalt

Palliative Care geht auf die Betreuung Sterbender durch religiöse Ordensgemeinschaften zurück und hat sich seither immens weiter entwickelt.

Die Autorin und der Autor befassen sich kritisch mit der "Philosophie" der Palliative Care, d.h. mit den Leitlinien hinter dem praktischem Handeln. Bei der Kritik dieser "Philosophie" gehen sie selbst philosophisch vor. Sie beziehen sich dabei auf die Philosophie als Tätigkeit des Klärens von Gedanken, Begriffen, Sätzen. Konkret werfen sie der gängigen Praxis vor, zu professionell, zu elaboriert, zu instrumentalisiert vorzugehen (z.B. mit dem Versuch der Quantifizierung von Haltungen, die nur qualitativ erfassbar seien). Der Vorwurf in Richtung Grundlagen, leitende Prinzipien richtet sich gegen vage Bestimmungen, mehrdeutige Begriffe (z.B. der Begriff der "Lebensqualität"), Überforderungen (z.B. die Herstellung einer freundschaftlichen Beziehung zum Patienten).

Ziel der kritischen Bestandsaufnahme ist aber nicht eine grundsätzliche Ablehnung der Palliative Care, sondern ihre Rekonstruktion auf eine realistische, faire, mitmenschliche und transponierbare Weise. Diese zeichnet sich aus durch eine bescheidenere, aber gerade dadurch realistische, ressourcenbewusste und auf den Patienten fokussierte Aufgabenerfüllung.

Symbol der Erneuerung ist Asklepios, der Heiler, der sich dem Individuum intensiv zuwendet, ihm geduldig zuhört, dessen innere Bewegung unterstützt, während der (in seiner Notwendigkeit nicht geleugnete, aber für die Autoren überbordende) Ansatz der Medizin des Hippokrates - wieder in den Augen der Autoren - vom Individuum absieht und nur nach allgemeinen, quantifizierbaren und messbaren Ursachen und Wirkungen sucht. Der Rezensent meint allerdings: Die nomothetische Perspektive in der Forschung muss den individuellen Zugang in der praktischen Arbeit nicht be- oder sogar verhindern.

Zunächst ein Überblick über den inhaltlichen Aufbau des Werkes: Teil 1 befasst sich mit dem Bezugsrahmen und den Konzepten der Palliative Care, beschreibt ihre Wurzeln, Traditionen, ihre Philosophie; setzt sich dann mit einzelnen zentralen Begriffen bzw. Bereichen auseinander wie Lebensqualität, Autonomie, Würde, Respekt, Patientenzentrierung, mit der Einbeziehung der Angehörigen. Teil 2 beleuchtet Interventionen, Effektivität und Kosten, geht dabei auf spezifische Fragen ein wie Symptombehandlung, Lebensverlängerung, Reanimation, Patientenverfügungen, Umgang mit psychosozialen und spirituellen Problemen, Ressourcenzuteilungen.

Teil 3 schließlich bringt Vorschläge für einen "besseren Weg" mit einer neuen Philosophie der Palliative Care.

Die Argumentation reizt an vielen Stellen zur Diskussion. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der "Lebensqualität" ist ein gutes Beispiel. Die Autoren beteuern die logische Unmöglichkeit einer Definition der Lebensqualität, weil die Liste aller möglichen Faktoren der Lebensqualität nie vollständig sein kann; sie kritisieren außerdem, dass die verschiedenen Individuen unterschiedliche Faktorengewichtungen aufweisen können; und schließlich bemängeln sie, dass die Faktoren der Lebensqualität in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Relevanz haben können. Deshalb die Schlussfolgerung, dass eine Definition logisch unmöglich ist. Der Rezensent findet diese Argumentation nicht zwingend: "Lebensqualität" könnte formal bestimmt werden, ihre Faktoren könnten demonstrativ statt taxativ aufgezählt werden (die Autoren erwähnen selbst auf Seite 39 die Verwendung typischer Faktoren), die situative oder auch regionale Variation könnte durch spezifische materiale Bestimmungen der Variablen erfasst werden. Aufgrund dieser geänderten Prämissen ist der Begriff "Lebensqualität" nicht undefinierbar. (Insgesamt wäre die Frage zu klären, ob generelle Begriffe überhaupt notwendig bzw. sinnvoll sind und welchen Vorteil oder Nachteil die Verwendung dieser übergeordneten Begriffe aufweist. Man vergleiche die Tendenz, den Begriff des Intelligenzquotienten zu verabschieden).

Ein anderes Beispiel. Die Einbeziehung der Angehörigen in die Behandlung des Erkrankten wird kritisiert. Die Auffassung der Familie als "unit of care" wird als unweigerlich zu Interessenskonflikten führend bewertet. Richtig daran ist, das der Erkrankte im Zentrum stehen muss und Ziel therapeutischer Maßnahmen bleiben muss. Aber die angeführten Schwierigkeiten (Interessenskonflikte, Schädlichkeit der Begleitung, Ressourcenbindung etc.) sind nicht grundsätzlicher Natur. Es sind Probleme, die bei jedem systemischen Ansatz bedacht werden - niemand würde deswegen ein "ökologisches" Denken in Frage stellen, die Arbeit mit dem Umfeld ist -richtig gestaltet - kein Verrat am Behandlungsauftrag gegenüber dem Kranken.

Auf Seite 89 wird kritisiert, dass durch die WHO verschiedene Gemütszustände der Angehörigen Sterbender pathologisiert werden. Man dürfe aber normale Vorgänge wie Trauer nicht als "krank" bezeichnen. Dagegen ist einzuwenden, dass nicht die Trauer an sich den Krankheitswert ausmacht, sondern  z.B. ein überdurchschnittlich lange andauernder Affekt.  

Auf Seite 162 wird bei der Empfehlung, die notwendigen Beraterhaltungen zu "verinnerlichen", das Wort "verinnerlichen" gleichgesetzt mit:" Bislang spontane und authentische Reaktionen würden durch antrainierte und künstliche ersetzt." Das zeigt eine Tendenz des Buches in der Argumentation auf: Begriffe werden auf eine originelle, d.h. vom gewohnten fachlichen Verständnis abweichende Weise gedeutet und dann bekämpft. Das zeigen auch die folgenden Beispiele.

Auf Seite 165 setzen die Autoren ihre Haltung in Gegensatz zu "stereotypen Verhaltensweisen und  trickreichen Manövern". Kritikpunkt ist das therapeutische Kommunikationsverhalten. Auch die "Empathie" wird negativ beschrieben und mit Mitleid(en) bzw. Verlust der notwendigen Distanz zum Patienten gleichgesetzt. Auf Seite 167 wird der Begriff "Kongruenz" missdeutet als vollständige Mitteilung der eigenen Empfindungen. Niemand, der diese Haltung therapeutisch verwirklichen kann,  wird die Übereinstimmung von Selbstbild und Realbild (das ist u.a. gemeint mit Kongruenz) mit einer rückhaltlosen Selbstoffenbarung verwechseln. 

Man gewinnt aus alldem den Eindruck einer gewissen Erfahrungsferne der Autoren, was die richtig verstandenen und eingesetzten therapeutischen Grundhaltungen und nicht deren Anfangsschwierigkeiten anbelangt. Viele der angeführten Befürchtungen und Fragen stellen sich tatsächlich nur am Anfang einer Therapieausbildung. 

Abgesehen von diesen argumentativen Schwarz-Weiß-Zeichnungen enthält dieses Buch aber ganz wichtige Impulse und widmet sich sehr diffizilen und heiklen ethischen Fragen rund um Entscheidungen der Intervention wie z.B. der Frage Verlängerung des Todes oder des Lebens? Töten versus sterben lassen? Fragen und Probleme der Patientenverfügung u. v. a. m. Die Ausführungen zur Würde, Autonomie, Respekt und Patientenzentrierung stellen nach Meinung des Rezensenten ein subtile Analyse der Wertabwägung dar: Würde und Wahrheit, Würde und Selbstbestimmung, Würde und Konsumentendenken usw.

Das Verdienst dieses Buches liegt für den Rezensenten weniger in der einzelnen Argumentation. Auch die auf Seite 211f Charakteristik der neuen Philosophie und der Definition der Palliative Care enthält für den Rezensenten keine Überraschungen. Was aber gelingt, ist: Die Autorin und der Autor schaffen es, die Praxis "frag-würdig" zu machen,  sie schaffen es zu zeigen, dass es notwendig ist und sich lohnt, sich mit den impliziten und expliziten Leitlinien des professionellen Handelns auseinanderzusetzen, Ungenauigkeiten zu klären, unrealistische Erwartungen und Forderungen zu redimensionieren. Hinter allen kritischen Anmerkungen der Autoren merkt man die Sorge um die als wertvoll eingestufte Palliative Care. Die Rekonstruktion strebt so klar definierte Rollen-Bedingungen an, dass sie lebbar und gestaltbar sind (sie werden im Berater-Klient-Paradigma aufgespürt).

Durch die philosophische Auflösung des "Selbstverständlichen" mit dem Ziel, Klarheit zu schaffen, ist es ein herausforderndes Buch mit einem klaren Appell, der mit Rousseau lauten könnte: "Zurück zur Natur!" Zurück zu einer asklepianischen Betreuung und Pflege, d.h. zu einer individuellen, achtungsvollen, aufmerksamen und "künstlerischen" Hinwendung zum sterbenden Menschen.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
03.02.2014
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/philosophie-der-palliative-care.html
Kostenpflichtig
nein