Lehrbuch der Psychodynamik
Es handelt sich um die vierte, überarbeitete Auflage des Buches (es ist nicht angeführt, worin die Überarbeitung bestand). Das Vorwort gibt eine dreifache Motivation für das Entstehen des Werkes an: Zunächst geht es um eine Verbindung zwischen der Beschreibung durch die Psychiatrie und dem...
Buchtitel: Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen.
Autorinnen: Mentzos S
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2010
...Verstehen der psychodynamischen Zusammenhänge; weiters bezweckt das Buch, den Aufweis dafür zu liefern, dass Störungen sehr wohl funktionelle Problemlösungsaspekte haben -wobei das Problem in der bipolaren Grundverfasstheit des Menschen besteht, die nicht ausbalanciert gelebt werden kann, sondern entweder selbstbezogen oder objektbezogen "gelöst" wird.
Das Buch gliedert sich in drei Teile: Allgemeine Psychodynamik, Spezielle Psychodynamik, Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte. Zunächst werden psychische Störungen über deren Deskription hinaus gehend als funktionale Gebilde dargestellt, dann wird für die zentrale Bedeutung des Konflikts argumentiert. Die postulierte Priorität bzw. Superiorität des Konflikts über Stress, Trauma, Strukturmangel, Aggression und erlernte Verhaltensmuster kann man glauben - und insofern der Jahrzehnte langen Erfahrung des Autors Tribut zollen. Oder man kann diskutieren: Es ist eine Art Henne-oder-Ei-Streit, ob etwa der Konflikt erst Stress bewirkt oder ein gewisses Ausmaß an Distress nicht für sich genommen schon erhöhte Vulnerabilität mit sich bringt. Oder, ob ein Trauma (das doch von der Wortbedeutung her eine extreme seelische - und auch neurobiologische - Erschütterung bedeutet) erst durch die mangelnde seelisch stützende Umgebung sich destruktiv auswirkt. Oder ob der Strukturmangel nicht schwere Konflikte zur Folge hat, sondern im Gegenteil das ganz basale Dilemma zwischen Objektbezogenheit und Selbstbezogenheit durch seine unvollständige Lösung die Defizite erst bewirkt. Das folgende Kapitel 3 bringt die Idee des Autors zum Modus zur Darstellung: Dieser z.B. histrionische, phobische, depressive oder zwangsneurotische Modus zeigt sich im klinischen Erscheinungsbild als ein bestimmtes Bündel von Abwehrmechanismen und Kompensationen, die alle einem bestimmten Ziel dienen., wobei eine Mehr-Mehrdeutigkeit ähnlich wie bei der Symbolisierung besteht: Ein und derselbe Modus kann durch verschiedene Konflikte entstehen, ein und derselbe Konflikt kann durch verschiedene Modi abgewehrt werden.
Kapitel 4 bis 6 ist eine Art Repetitorium wichtiger psychoanalytischer Begriffe und Konzepte, vom Triebmodell bis zum therapeutischen Umgang mit Träumen, von der Bindungstheorie bis zu Narzissmuskonzepten. Diese werden im Kapitel 5 behandelt und hier bringt Mentzos ein anschauliches und sehr praktikables Bild: Das Drei- Säulen-Modell. mit dem es ihm auf elegant einfache und dennoch sehr ergiebige Weise gelingt, verschiedene Ätiologien der narzisstischen Störungen verständlich zu machen bzw. zu integrieren. Die Säule des Selbsterlebens vom archaischen Größen-Selbst bis zum reifen Ideal-Selbst, die Säule der idealisierten Eltern-Imagines bis hin zum reifen Ideal - Objekt und die Säule des archaischen Über-Ichs bis hin zum reifen Gewissen bewähren sich auch bei der Differenzierung von depressiven Erkrankungen.
Kapitel 7 bis 19 beschreiben spezifische Krankheitsbilder und die dahinter vermutete Psychodynamik (etwa die Entlastung durch Verschiebung bei der Phobie, die Entlastung durch Inszenierung eines veränderten Wahrgenommenwerdens bei der Hysterie, oder die Entlastung durch konkrete kontrollierte Konsequenzen bei der Zwangsneurose). Zu Beginn schlägt Mentzos ein dreidimensionales Diagnostik-Modell vor: Die Dimensionen sind die Art und der Reifegrad der Abwehr und Kompensation des Konflikts oder Traumas oder Mangels einerseits, weiters die Art des frühen Dilemmas oder des späteren Konflikts inklusive der involvierten Traumata und schließlich anderseits der Reifegrad der psychischen Struktur, aber insbesondere auch der Beziehungen zum Objekt und zum Ich (Seite 85f). Das den zweiten Teil abschließende Kapitel bringt Erkenntnisse der Neurobiologie zu den Psychosomatosen des Gehirns. Drei High-Lights des dritten Teiles sind erstens das Bipolaritätsmodell (die Auffassung, dass sich alle Konflikte auf die in der menschlichen Natur verankerte Bipolarität zwischen Selbstbeziehung und Objektbeziehung zurückführen lassen und deren problematische "Lösung" bedeuten); zweitens das Plädoyer für die Funktionalität der Dysfunktionalitäten (sie bekundet sich in der entlastenden, Sicherheit und Geborgenheit vermittelnden Zielsetzung der Modi, die zwar auftreten, wenn eine psychische Erkrankung und Störung der normalen Funktion vorliegt, aber die Funktionalität nicht gänzlich auslöschen) und drittens die metaphorischen Konzeptualisierungen - das Drei-Säulen-Modell, die Circuli vitiosi (z.B. die zunehmende Blockierung neuer Objekterfahrungen bei der Vermeidung), die Über-Ich-Konto-Metapher (der Hinweis, dass Schulgefühle durch Leiderfahrungen gemildert werden).
Ein interessanter Vergleich ergibt sich, wenn man das Lehrbuch mit dem fast drei Jahrzehnte früheren Werk: Neurotische Konfliktverarbeitung (Fischer Taschenbuch 42239) vergleicht: Wesentliche Ideen sind schon damals formuliert wurden und ihr erneutes Aufscheinen in dem aktuellen Buch vermittelt Vertrauen in die Nachhaltigkeit, Beständigkeit, Gültigkeit der Konzepte. Andererseits unterscheiden sich beide Werke - zumindest ist dies der Eindruck beim Rezensenten - vom Stil her: Das "alte" Buch bringt mehr Details und differenzierte Aussagen, das "neue" Buch wirkt abgerundeter, mehr um die generelle Aussage bemüht als um Einzelheiten. (Wenn die Aussage erlaubt ist: Das frühere Werk wirkt gescheit, das aktuelle weise). Die Metaphern sind Kostbarkeiten und das Bipolaritätsmodell ist ein wertvoller Generalschlüssel zum Krankheitsverständnis und zur Therapie!