Kompetenz für Inklusion. Inklusive Ansätze in der Praxis umsetzen.
Das Thema wird spalten: Kritiker werden die ideelle Position und die uneinholbare Utopie einer unseparierten Gesellschaft betonen. Befürworter hingegen sehen in der Inklusion tatsächlich egalitär gelebte Humanität und aktive Mitmenschlichkeit...
Buchtitel: Kompetenz für Inklusion. Inklusive Ansätze in der Praxis umsetzen.
AutorInnen: Ziemen K
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2013
Zum Inhalt
Das Buch hat drei Teile: Teil I setzt sich mit dem Kompetenzbegriff auseinander, TeiI II beschreibt Inklusion und Exklusion, Vorstellungen von "Behinderung" und Ergebnisse einer Befragung, Teil III untermauert sein Bekenntnis: Eine Schule für ALLE!
Eindrucksvoll sind die Fallbeispiele, besonders dort, wo eindeutig Förderversäumnisse aufgezeigt werden, wie z.B. im Fallbeispiel Carla. Carla ist nach einer Rötelembryopathie geistig behindert. Dennoch malt sie mit 7 Jahren die Buchstaben ihres Namens ab, sie zieht Striche, blättert in Büchern, sie bekommt aber kein schulisches Angebot zum Schriftspracherwerb oder zur Entwicklung mathematischer Vorstellungen. Mit 12 Jahren tut sie nichts mehr desgleichen. Die rücksichtsvolle Familie achtet darauf, dass Carla in der Öffentlichkeit nicht auffällt. Man spricht über Carla, aber nicht mit ihr. Carla führt ein sehr eingeschränktes Leben. Beispiele wie dieses lassen den Eifer verstehen, mit dem Inklusionsbefürworter dafür eintreten, dass behinderte Kinder am normalen Schulleben teilhaben können.
Auch die anderen Fallbeispiele verdienen, erwähnt zu werden. Der Fall Gaby zeigt auf, wie Voreingenommenheit gegenüber einer 17Jährigen mit Trisomie 21 verhindert, die durchaus entsprechenden Leistungen anzuerkennen.
Der Fall Alexanders Mutter berichtet, wie die Mutter eines schwerstbehinderten Kindes ihr Wissen als Betroffene und als Sonderpädagogin in einer Grundschule fruchtbar macht.
Der Fall Akin demonstriert, wie ein schwerstbehinderter Jugendlicher durch ein intensives Förderprogramm (z.B. werden mit einer rehistorisierenden Diagnostik systematisch Entwicklungsförderungsdefizite aufgespürt) den Übergang von der Schule in den Beruf schafft.
Die Autorin setzt sich zunächst mit Kompetenz auseinander, diese wird definiert z.B. als Verhältnis zwischen den Anforderungen an eine Person und den verfügbaren Funktionspotenzen (Seite 18). Eine Beziehung zwischen Kompetenzen und kulturellem, sozialem, symbolischem "Kapital" (nach Bourdieu) des Individuums wird hergestellt, das symbolische Kapital besteht u.a. in der Wertschätzung, die man von anderen erfährt und die auch behinderten Menschen nicht versagt bleiben soll. Eltern können als Experten ihrer eigenen Situation angesehen werden (Seite 33). Eine Befragung der Autorin zeigt die Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten der Entwicklung bzw. des Einsatzes kognitiver, emotionaler, sozialer Kompetenzen auf.
Inklusion ist das besondere Einsatzziel der Kompetenz. Inklusion zielt auf eine auf Anerkennung und Differenz basierende menschliche Gemeinschaft ohne Ausgrenzung (Seite 47), die Integration wird einerseits als nicht ausreichend betrachtet, weil strukturelle Separationen dennoch weiter bestünden (Seite 48), andererseits wird Integration als Prozess auf dem Weg zur Inklusion als Ziel gesehen (ebd.)
"Inklusion zielt auf die Gleichwertigkeit des Individuums, auf die Vielfalt in der Differenz, auf Partizipation, Anerkennung und Gerechtigkeit" (Seite 51), sie ist gekennzeichnet durch Teilhabe, Vielfalt und Haltung (Seite 52). Die Autorin berichtet über ein Forschungsprojekt, in dem die Einstellung zur Behinderung bzw. die mit Behinderung verbundenen Vorstellungen erfasst wurden. "Negative Bilder, Vorstellungen und Konstruktionen zu "Behinderung" stehen der inklusiven Idee und deren Umsetzung im Wege." (Seite 77) Ziel ist, alle gesellschaftlich relevanten Felder so zu gestalten, dass jeder Mensch daran teilhaben kann. (ebd.).
Im dritten Kapitel formuliert die Autorin diagnostische, didaktische (z.B. das Partizipationsmodell, das Keimzellmodell) Kompetenzen für schulische Integration. Ein komplexer Mehrebenenansatz ist die von der Autorin entwickelte "Reflexive Didaktik" (Seite110 bis 115). Alle Ansätze kreisen elliptisch um zwei Brennpunkte: Ein alle Schüler und Schülerinnen verbindendes pädagogisches Konzept und zugleich innere Differenzierung und Individualisierung im Unterricht und in der Erziehung.
"Wissenschaft zeichnet sich durch Prägnanz und Verdichtung von Erkenntnissen aus. Dominantes Ziel muss begriffliche Klarheit sein", schreibt die Autorin auf Seite 16. Der Rezensent teilt diese Meinung und möchte Präzisierungsvorschläge einbringen. Das sei an drei Beispielen ausgeführt.
1.Beispiel: Auf Seite 10ff wird ein Buch zitiert, in dem Fremdheit als Ressource betrachtet wird, weil sie eine permanente Selbstauseinandersetzung anregt, Kreativität fördert etc. Fremdheit ist aber keine Ressource. Fremdheit ist ein relativer Zustand oder Inhalt einer vergleichenden Wahrnehmung, der zur Aktivierung von Ressourcen anregt. Das hat eine praktische Relevanz: Die Konfrontation mit dem Fremden ist nicht schon selbstverständlich selbstwirksam. Es bedarf pädagogischer, manchmal auch psychologischer Begleitung, damit die Fremdheit konstruktiv verarbeitet werden kann.
2. Beispiel: Kompetenz wird als Komplex von Fähigkeiten verstanden und für diese Fähigkeiten "kann ebenso das gezeigte ´Können`, das Gesamt der Handlungen bzw. Verhaltensweisen eines Menschen stehen." (Seite 22). Durch diese übermäßige Extension unterscheidet sich Fähigkeit nicht mehr von Handlung an sich, alles Tun ist eine Fähigkeit, der Begriff ist nicht mehr griffig. Gemeint ist sicherlich etwas anderes, nämlich: Jedes Verhalten eines Menschen kann als Fähigkeit betrachtet werden, wenn es zur jeweiligen Situationsbewältigung beiträgt. Diese Überlegung ist insofern relevant, weil sie die Situation ins Spiel bringt, den Kontext. Sicherlich kann jede Handlung als Fähigkeitspotential betrachtet werden, was fast zu einer Beliebigkeitsannahme verführt. Aber praktisch-relevant ist die situative Problemlösungsfähigkeit. Das Erlernen der Verschränkung von Verhaltensrepertoire und Situationsinterpretation bedarf pädagogischer Unterstützung.
Ein drittes Beispiel: Die Kompetenzen werden drei unterschiedlichen Ebenen zugeordnet (Seite 36f), diese allerdings als Dreieck dargestellt: emotional, kognitiv, sozial. Die Ebenen werden eher indirekt beschrieben als klar definiert. "Als kognitive Kompetenzen (...)werden all jene zusammengefasst, die prinzipiell in pädagogischen, didaktischen oder diagnostischen Kontexten einen Stellenwert einnehmen (könnten)" (Seite 39). Kognitiv wäre demnach alles, was in einem spezifischen Kontext einen Stellenwert einnimmt? Stellenwert haben doch ebenso evaluative, emotionale, volitionale Kompetenzen! Gemeint ist sicherlich: Die kognitiven Kompetenzen sind jene geistigen Aktivitäten bzw. intellektuellen Fähigkeiten, die zur Lösung kontextspezifischer Anforderungen notwendig sind. Wird die Bezeichnung "kognitiv" nämlich inflationär gebraucht, verliert das pädagogische Handeln mit dem klaren Fokus auch eine Dimension der Prozesskontrolle.
Das Buch plädiert mit vielen theoretischen Überlegungen (Bourdieu, Vygotskij,...), mit Realisierungsbeispielen (z.B. Reutte) und mit praxisrelevanten, konkreten Vorschlägen für eine Schule für Alle. Die Autorin steht authentisch hinter diesem Bestreben, für sie ist Inklusion realisiert in einer humanen und demokratischen Schule, in der jedes Kind und jeder Jugendliche anerkannt, wertgeschätzt wird, in der die Potenziale nach den jeweiligen Möglichkeiten entfaltet werden und eine dialogische, kooperative, kommunikative Atmosphäre besteht. Die grundlegende Kompetenz ist von der Überzeugung getragen, dass Inklusion in allgemeiner Teilhabe, in personaler Vielfalt und in einer offenen Haltung gelebt werden kann! Wichtig ist ihr der Abbau von Vorurteilen im Umgang mit Behinderten.
Das Thema wird spalten: Kritiker werden die ideelle Position und die uneinholbare Utopie einer unseparierten Gesellschaft betonen. Befürworter hingegen sehen in der Inklusion tatsächlich egalitär gelebte Humanität und aktive Mitmenschlichkeit...