Handbuch Soziale Arbeit
BUCHBESPRECHUNG: Das Handbuch präsentiert auf rund 1800 Seiten den Kontext, innerhalb dessen sich die Soziale Arbeit wissens- und handlungsmäßig bewegt, mit dem Ziel "die sozialarbeiterisch-sozialpädagogische Professionalität zu stärken, damit sie sich durch Wissen und Reflexion in die Lage...
Buchtitel: Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik.
Autorinnen: Otto H-U u Thiersch H
Verlag: Reinhardt
Erschienen: 2011
...versetzt sieht, den Anforderungen in Praxis und Theorie gerecht zu werden" (S VI). Das Handbuch benötigte eine Überarbeitung, um den neuen Tendenzen wie Ökonomisierung, Neoliberalismus, Verelendung, Exklusion, Entgrenzung und allen Formen und Folgen des Gesellschaftswandels zu entsprechen und "Soziale Arbeit in ihrer gesellschaftlichen Notwendigkeit und im Prinzip sozialer Gerechtigkeit zu fundieren, die Vielfältigkeit und auch Ergiebigkeit der disziplinären und professionellen Denk- und Handlungsformen darzustellen" ( S V). Dabei soll Bewährtes, aber auch noch Offenes, Unbewältigtes zur Sprache kommen. Zwar soll der "Eigensinn" (S V) der Sozialen Arbeit gestärkt werden, aber dieser ist gemeint als Selbstbestimmung, die durchaus Öffnung über den eigenen Methodenzaun zulässt, z.B. auch hinsichtlich stärkerer Berücksichtigung von Emotionen und psychologischen Grundkonzepten. Das Handbuch weist neben dem alphabetischen Verzeichnis der Beiträge auch ein systematisches Verzeichnis auf. Einzelne Beiträge versammeln sich nun systematisch unter den Leitbegriffen Geschichte und Theorie, Theorieansätze, Methodologische Grundlagen, Professionalität, Studium und Weiterbildung, Gesellschaftstheorie und Gesellschaftspolitik, Recht und Rechte, Lebenslagen und Soziale Probleme, Ethik - Werte - Normen, Entwicklung und Sozialisation, Lebensphasen, Organisationen, Planung und Mangement, Grundfragen sozialpädagogischen und sozialarbeiterischen Handelns, Handlungskompetenzen - Methoden, Arbeits-und Handlungsfelder, Kooperation - Vernetzung und Soziale Arbeit international. Es gibt wie daraus ersichtlich viele Spezialthemen, aber auch zusammenfassende Themenkomplexe, die Zusammenhänge zwischen den Wissenspuzzlesteinen sichtbar machen.
Handbücher haben zumeist zwei „stilistische“ Ausrichtungen: Als Handbuch haben sie den Ehrgeiz einer funkelnden Präsentation von Wissen auf dem letzten Stand (das u.U. ohne eine Menge Vorwissen schwer zu verstehen ist) und als Grundlage für eine Profession haben sie den Ehrgeiz einer Vermittlung von praxisrelevantem Wissen. Letzterem Ziel, der Stärkung der Professionalität, um den beruflichen Anforderungen gewachsen zu sein, entspricht eine Darstellung, die den Leser "mitnimmt“. Der Leser ist eingeladen, die Beiträge im Handbuch hinsichtlich dieser zwei Tendenzen und ihrer Balance zu beobachten. Ein trotz schwieriger Thematik und Aktualität sehr verständlicher Beitrag ist z.B. Müller über Gefühle, Emotionen und Affekte (S 459-462) gelungen. Sehr schön sieht man diese Zweiteilung z.B. im Beitrag "Wissenschaftstheorie". Die Autoren präsentieren am Anfang eine von Luhmann stammende Definition der Theorie, die nur ein Liebhaber Luhmannscher Sprachakrobatik ohne Anlaufschwierigkeiten bewältigen kann (S 1735): „Theorien sind „Versuche, für Gegenstandsbereiche, die wissenschaftlicher Kommunikation verfügbar gemacht werden sollen, die Einheit des Komplexen als Referenz der Variation der Aussagen zu formulieren“. Diese Definition der Theorie funkelt manchem wie ein Edelstein. Solche sind aber bekanntlich nicht essbar, daher wird die Theoriedefiniton dann auch nicht mehr weiter aufgegriffen. Viel nahrhafter die Definition der Theorie kurze Zeit später (S 1737), die in guter Lehrbuchmanier die unbekannte Variable nicht durch andere unbekannte Variable zu erklären versucht, sondern eine vertraute Terminologie in die semantische Gleichung einbaut (S 1737): „Eine Theorie kann aufgefasst werden als ein System von intersubjektiv überprüfbaren, methodisch gewonnenen, in einem konsistenten Zusammenhang formulierten Aussagen über einen definierten Sachbereich“. Ein Satz wie eine praktische Checkliste für geistige Ernährung...
Manchmal wünscht man sich bei aller notwendigen Prägnanz und Redundanzreduktion mehr Erläuterungen. Auch hier am Beispiel des Beitrags zur Wissenschaftstheorie: So befremdet die Aufteilung in „normale“ Wissenschaften mit systemexternen Beobachtern (die man „weglassen“ kann) wie Physik, Biologie und Soziologie und in „schwächere“, reflexive Wissenschaften mit systeminternen Beobachtern wie z.B. die Pädagogik (S 1735f). Gerne würde man hier mehr über ihre Antwort auf diese Fragen erfahren: Ist der Beobachter nicht allen „normal“-wissenschaftlichen und „schwächeren“-reflexiven Beobachtungen immanent? Macht der Konstruktivismus eine "Pause" bei den Naturwissenschaften? Was unterscheidet den soziologischen Fokus vom pädagogischen, ist er „ganz“ und der andere „Teil“? Ist nicht jede Beobachtung nur von einem Teilsystem aus möglich? Steht der Soziologe wirklich außerhalb der Gesellschaft, der Biologe außerhalb der Natur? Der Rezensent konzediert die Möglichkeit des Nichtverstehens. Wahrscheinlich haben die Autoren ganz andere Intentionen. Wie könnten diese transparenter werden?
Bei der thematischen Aufstellung des Inhalts (systematisches Inhaltsverzeichnis) sieht man, dass in jedem Themenkomplex auch die Soziale Arbeit berücksichtigt ist. Dennoch wäre es überlegenswert, bei einer künftigen Neuauflage, die einzelnen Beitragenden zu einem Brückenschlag zur Sozialen Arbeit einzuladen, sofern ihr Beitrag nicht ohnehin explizit zur Sozialen Arbeit Stellung bezieht.
Abgesehen von diesen Anmerkungen liegt aber in diesem grundlegenden Gesamtwerk ein ganz reichhaltiger Fundus an Wissen vor, beeindruckend in Tiefe und Breite. Man kann sich wirklich vorstellen, dass der Sozialarbeiter, die Sozialpädagogin im Besitz und in der jederzeit möglichen Heranziehung des Handbuchs sein bzw. ihr professionelles Selbstbewusstsein stärken kann! Das Buch ist aber auch interessant für alle anderen Leser, die sich fragen, wie dem Gesellschaftswandel sowohl individuell als auch systemisch Rechnung getragen werden kann.