Handbuch der Integrativen Therapie
Kapitel 1 thematisiert die geschichtlichen Quellen der Integrativen Therapie unter Berücksichtigung der Referenzwissenschaften, allen voran die (überwiegend französische, russische) Philosophie (phänomenologisch, hermeneutisch, existentiell ausgerichtet, zentral Merleau-Ponty und seine...
Buchtitel: Handbuch der Integrativen Therapie
Autorinnen: Leitner A
Verlag: Springer
Erschienen: 2010
...Leibphilosophie), aber auch die Psychoanalyse, sowohl bei Freud selbst und seinen Gesprächsregeln andockend, als auch bei den kreativen Abweichungen von der abstinenten Urposition zur erlebniszentrierten, gewährenden Haltung bei Ferenczi, oder bei Perls mit seiner Gesundheitszentrierung, Körperorientierung und dialogischen Einstellung, um nur zwei Beispiel zu nennen. Im zweiten Kapitel werden entsprechend dem „tree of science“ (einer für die Integrative Therapie entwickelten Metastruktur) Metatheorien, realexplikative Theorien, Praxeologie und Praxis der Integrativen Therapie dargestellt. Interessant ist dabei die Wahl des Verständnisses von Metatheorie: Sie wird nicht als Theorie der Theorie mit strengen Regeln und Kriterien beschrieben, sondern als Annahme, Vorstellung, Menschenbild, überwiegend durch Sozialisationsbedingungen und durch die persönliche Stellungnahme (Weltsicht und Lebensgefühl) zustande kommend. Ausgewählt werden als Metatheorie die Erkenntnistheorie, die Wissenschaftstheorie, die Anthropologie, die Gesellschaftstheorie und die Ethik. Auf Seite 61 werden weitere Metatheorien aufgezählt „zu den Metatheorien zählen ebenfalls…“, bei einer weiteren Auflage könnte hier ergänzt werden „zu den hier als relevant betrachteten Metatheorien zählen ebenfalls..“, damit würde nämlich auch die Auswahl der Metatheorien nochmals als solche bewusst und diskussionsfähig gemacht. Nach den Metatheorien (large range theories) werden die realexplikativen Theorien (middle range theories) beschrieben, die – wie z.B. die Persönlichkeitstheorie, die Entwicklungstheorie, die speziellen Theorien der Psychotherapie – Orientierungshilfe in wichtigen psychotherapeutischen Situationen ermöglichen. Die nächste Ebene bildet die praktische Umsetzung des Bisherigen, die Praxeologie umfasst Settingtheorien, Interventionslehre, Prozesstheorien etc. Schließlich folgt die Ebene der Praxis, der konkrete Umgang mit Patienten. Die Reflexion der Praxis verhilft zu Transparenz des therapeutischen Handelns. Sehr sympathisch ist das Einbeziehen des Patienten in den Erkenntnisprozess und das Bemühen darum, das Geschehen und die Perspektive des Therapeuten dem Klienten verständlich zu machen (Seite 63). In diesem Abschnitt beschäftigt sich der Autor auch ausführlich mit der Überwindung der cartesianischen Leib-Seele-Dualität, die er weitestgehend mit „Psychotherapie“ verknüpft sieht und plädiert für eine bio-psycho-soziale Humantherapie (es wird ja auch die Bezeichnung Integrative Therapie gewählt ), nur ein multitheoretiscber Ansatz könne der Komplexität des Menschen gerecht werden. Im 3. Kapitel erfolgen zentrale Klärungen: Definitionen, Konzepte, Einstellungen der Integrativen Therapie, z.B. die originellen Bestimmungen von „Körper“( u.a. als Gesamtheit aller biologischen, biochemischen und bioelektrischen Prozesse des Organismus), „Seele“ (als emotionales, motivationales und volitives Gedächtnis), „Geist“ (als begriffliches, symbolisches Gedächtnis), „Leib“ (als transmaterielle Größe, lebendiger Körper). Damit entstehen u.a. drei Fragen: 1) Würde es die Hinzunahme des Geistigen nicht auch erlauben, von einem bio-psycho-sozio-mentalen Ansatz zu sprechen? 2) Wie verteidigt man sich in Bezug auf die Definition des Körpers als Biomasse, die entseelt nach dem Tod überbleibt (Seite 81), bzw. die Definition des Leibes als lebendiger Körper (Seite 82) gegen den Vorwurf eines versteckten dualistischen, cartesianischen Gedankens? 3) Ist der Leib (Körper, Seele, Geist umfassend, transmateriell, Bewusstsein und Personalität aufweisend) höher, anders angesiedelt als Körper, Seele, Geist und welche Beziehung besteht in dieser Metafunktion zum Begriff (z.B. der gestalttherapeutischen Auffassung) des Selbst- ist der Leib das Selbst?
Aus diesem Kapitel seien noch zwei interessante Ausführungen hervor gehoben: Einerseits das Gelingen echter Integration (gegenüber einem Eklektizismus) durch Verwendung der Metastruktur des Tree of Science (dadurch, dass Unterschiede zwischen den integrierten Theorien weiter bestehen dürfen, aber miteinander Verknüpfungen stattfinden, kann man sagen, dass es sich bei der Metastruktur tatsächlich um eine Metatheorie handelt und nicht nur um einen auf den gemeinsamen Nenner reduzierten Theorierahmen). Andererseits die respektvolle Akzeptanz, aber auch differenzbewusste Haltung gegenüber Spiritualität. Aus Platzgründen nur kurz angeführt: Kapitel 4 befasst sich mit der Theorie der Persönlichkeits(-entwicklung), Kapitel 5 mit der Ätiologie, d.h. mit verschiedenen Pathogenesemodellen. Kapitel 6 beschreibt 5 Prinzipien, die in der Integrativen Therapie die Theorie des menschlichen Handelns spezifizieren. Kapitel 7 erläutert die praktische Anwendbarkeit des integrativen Ansatzes, z.B. Modalitäten, Heilungs- und Förderebenen. Das abschließende 8.Kapitel bringt umfassend die Effektivität(-snachweise) der Methode zum Ausdruck. Dem Autor gelingt es, auf rund 330 Seiten, eine Fülle von Gedanken und Ideen zu vermitteln, die zur Auseinandersetzung und Diskussion einladen, etwa: Die serielle Paradigmenfolge von der phänomenlogischen Sinnesschau zum hermeneutischen Sinnverstehen – ist das wirklich so mühelos integrierbar, nahtlos umsetzbar? Das Buch verdankt viele Impulse der Grundlagenarbeit von Petzold (dessen Publikationen 13 (!) Seiten des Literaturverzeichnisses füllen). Der Autor polemisiert nie, sondern vermag in „ruhiger“ Argumentation zu überzeugen, auch dort, wo er kritisiert (wie z.B. den cartesianischen Dualismus oder die rein materialistische Position).
Es gibt einige Fragen, z.B. die multimodale Praxeologie konkret betreffend: wie vollzieht man und wie gelingt die indikationsgeleitete Selektion, Kombination der einzelnen Modalitäten etwa der Übungszentrierung, der Konfliktzentrierung..? Wie setzt man konkret die vier Ebenen der Tiefung (von der Reflexion bis zur autonomen Körperreaktion) ein, wie erklärt man dem Patienten den eingeschlagenen Weg oder den Wechsel des Weges der Heilung (z.B. Bewusstseinsarbeit, kreative Erlebnisentdeckung), wie verwendet man die mediengestützten Techniken – und zwar so, dass es nicht zu einer Addition von Verfahren und Techniken kommt? Und wie erreicht man bei alldem das Verständnis des Patienten? Die fünf Behandlungsdokumentationen und Interpretationen des Vorgehens (Seite 226 bis 244) geben Antworten auf diese Fragen.
Ein sehr interessantes, sehr ansprechendes, sehr informatives Buch, das durch die Kombination von Sachlichkeit und Impulskraft zur Interaktion mit dem Text auffordert!