Generation 2.0 und die Kinder von morgen
"Es ist mir wichtig, gleich an dieser Stelle festzustellen, dass es mir nicht darum geht, in diesem Buch vor den Gefahren einer drohenden Zukunft zu warnen und eine Kassandra zu spielen. Dass die Zukunft anders sein wird als die zurückliegende Zeit und die Gegenwart, kann kaum bezweifelt werden.
Buchtitel: Generation 2.0 und die Kinder von morgen - aus der Sicht eines Kinder- und Jugendpsychiaters
Autorinnen: Lempp R
Verlag: Schattauer
Erschienen: 2012
Aber ob sie besser oder schlechter werden wird, können nur die feststellen, die sie als Gegenwart erleben", schreibt der nun bald 90 jährige Kinder- und Jugendpsychiater Reinhart Lempp einleitend (S 3f) und setzt fort:" Es interessieren mich aber sowohl die Ursachen der Veränderungen im Laufe der Zeit wie auch die Frage, ob unsere Theorien über die Bedeutung der Umwelt für die psychische Entwicklung und ihre Bedingungen vor der Wirklichkeit standhalten, welche die Zukunft bieten wird." Lempp befasst sich mit der Familie als Institution, der sinkenden Geburtenrate, der anhaltenden Verkleinerung der Familie auch infolge der Berufstätigkeit der Frau. Ein weiteres Thema sind die Veränderungen der Werte, die Globalisierung, die Kinderbetreuung, wobei immer wieder autobiografische Rückblenden erfolgen und den Wandel vor der Folie der Vergangenheit deutlich vor Augen führen. Damit wird aber keine nostalgische Perspektive eingenommen, sondern eine Analyse der Gegenwart durchgeführt, die zu ganz klaren Aussagen kommt, z.B. " Bei jedem fünften Kind gehen beide Eltern ihren Berufen nach. So wachsen viele und immer mehr Kinder schon in ersten Lebensjahren mit mehreren, öfter wechselnden Erwachsenen und in der Kita mit einer großen Anzahl gleichaltriger Kinder auf. Da ist der Aufbau einer stabilen und bis in die Zukunft tragfähigen Beziehungen ziemlich erschwert, in ungünstigen Situationen sogar unmöglich." (S 90). Lempp betont aber nicht nur die Vorteile der engen Kind-Mutter-Beziehung, sondern räumt auch die Substituierbarkeit der Mutter dort ein, wo die Verhältnisse keine Betreuung des Babys durch die Mutter ermöglichen. Ebenso sieht der erfahrene Kinder- und Jugendpsychiater die Vorteile des geschwisterlichen Zusammenlebens für die psychosoziale Entwicklung und kommt zu der prägnanten Aussage:" Im Kinderhort und Kindergarten fühlt sich das neu aufgenommene Kind meist in einer Situation der Rivalität - mit dem Bemühen, sich zu behaupten und auch durchzusetzen. Gerade das fördert die später so nötige Empathiefähigkeit zunächst gar nicht, sondern verhindert sie geradezu. Das freiwillige und verantwortliche gerechte Teilen lernen Kinder in einer Geschwisterschar im Lauf der Zeit ganz von allein. In der Kita und im Kindergarten ist das nicht erlernbar, denn dort wird gerecht zugeteilt." (101). Selbst, wenn man konzediert, dass hier ein Idealbild der Geschwisterkooperation gezeigt wird, und man auch über die Abweichungen davon in Form von Geschwisterneid und -eifersucht und deren Folgen nachdenken muss, kann man den Worten Lempps viel abgewinnen, auch seinen Ausführungen zur erschwerten Situation von Einzelkindern (S 107 bis 110). Das Einzelkind kann keinen Familienstil übernehmen, weil keine oder wenig Gemeinsamkeit besteht. " Das Einzelkind wird sich vielmehr am Verhalten der anderen Kleinkinder orientieren und sich bemühen, es diesen gleich zu tun. Es lernt früh die große Bedeutung jeder Mode, im Vehalten wie in der Kleidung." (S 109).Noch überzeugender sind seine klaren Äußerungen zur Leistungsgesellschaft, im vom wirtschaftlichen Denken geprägten Wunsch der Eltern nach Leistungsvergleichen und Benotung sieht Lempp ein Problem: "Diese ständigen Vergleiche fördern den Egoismus der Kinder und stören durch ihre frühe Ab- und Aufwertung ihre soziale Eingliederung in die Gemeinschaft." (S 104f). Die verminderte Fähigkeit zur Empathie sei ein Leitsymptom des Autismus, es bestehe die Gefahr einer autistischen Gesellschaft. Es komme vermehrt zur Rücksichtlosigkeit durch den steigenden Leistungsdruck. "Diese Tendenz wird gegenwärtig ungewollt dadurch verstärkt, dass sich das Erfolgsprinzip unserer Wirtschaft in allen Lebensbereichen durchgesetzt hat, insbesondere im Bildungsbereich. Überall geht es darum, mehr Leistung in kürzerer Zeit zu erbringen, und dieses Prinzip wird auch zum Auslesekriterium in der Schule, ja, es wird bald die Frühförderung der Kleinkinder erfassen. Dies ist ein negativer, sich aufschaukelnder Kreislauf, weil jede Leistungsbestimmung zwangsläufig und ganz ungewollt zu einer Wertbestimmung des Menschen und zu seiner graduellen Einstufung wird, in diesem Fall sogar zu der eines Kleinkindes." (S 144f). Durch diese Rivalität lernen Kinder wenig Empathie, wenig Solidarität, sondern mehr Egoismus und Konkurrenzbehauptung, meint Lempp.
Klare Worte findet Lempp auch zu den modernen Medien und ihrer Wirkung auf Kinder. "Erst im Einschulungsalter lernen sie zunehmend sicher, Vorstellung und Wirklichkeit zu unterscheiden." (S 116). Die Vorstellungen bewirken eine Nebenrealität, die sich gefährlich mit der Hauptrealität vermischen kann. Außerdem bewirken zu viele Eindrücke, dass die Integrationsfähigkeit überfordert wird und es zu einem autistischen Rückzug kommt. Eine andere Wirkung der Reizüberflutung ist die Zunahme des Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndroms. Auch die Gefahr eines falschen Bildes von der Welt und der Wirklichkeit ist nicht auszuschließen; Lempp geht auch auf die Internetsucht ein, auf die Oberflächlichkeit der Handykontakte. Beklemmend ist die aufgezeigte Gefahr eines kurzen Realitätsverlustes, einer Art 10Minuten-Schizophrenie mit darauf folgenden Tötungsdelikten (S 134).
Lempp fordert für die Zukunft, die Bedingungen für Neugeborene zu verbessern, auch die Bedingungen der Betreuung außerhalb der Familie. Aber auch für die Familie verlangt er Verbesserungen, die die Verbindung von Berufstätigkeit und Familienleben erleichtern. Er plädiert auch für das Kinderbekommen in früheren Jahren, alte Eltern seien weniger gelassen, der Lebensstil der Jugend sei ihnen fremder - Lempp gesteht aber, dass es hierzu keine Forschungsergebnisse gibt. Er teilt seine Meinung mit. Ebenso denkbar ist, dass die Bereiche der Toleranz gegenüber den Kindern bei alten Eltern andere sein können als bei jungen. Ganz wichtig sind auch Lempps Forderungen bezüglich einer Veränderung des Bildungswesens, z. B. durch Abkehr vom wirtschaftlich diktierten Leistungs- und Erfolgsdenken. "Schulen sollen ausbilden, nicht auslesen", fordert er markant. (S 167).
Abschließend meint Lempp, dass in Zukunft individuelle Anerkennung, aber auch Solidaritätsanspruch notwendig sind, wofür Selbstbewusstsein und Empathie erforderlich sind. Die gegenwärtigen Bemühungen um eine bessere Zukunft besagt nicht, " dass wir unseren Kindern, Enkeln und Urenkeln nicht zutrauten, ihre Probleme selbst zu lösen und ihre Schwierigkeiten zu bewältigen. Aber wir sollten ihnen auch keine unnötigen Steine in den Weg legen."(S 170).
Eine besinnliche und zugleich herausfordernde Botschaft eines alten - und in etlichen Forderungen so jungen - Weisen!