Geiz, Trägheit, Neid & Co. in Therapie und Seelsorge
Ein Theologe macht die Hausaufgaben für die Psychologie? Tatsächlich, der Autor, zweifach habilitiert (in Religionspädagogik und in Erziehungswissenschaften), stellt fest, dass die Psychologie sich bislang wenig empirisch mit den sieben Todsünden befasst hat und diese Lücke geschlossen werden muss.
Buchtitel: Geiz, Trägheit, Neid Co. in Therapie und Seelsorge. Psychologie der 7 Todsünden
AutorInnen: Bucher A
Verlag: Springer
Erschienen: 2012
Nun könnte man einwenden, ebenso könnte ein Psychologe eine "Theologie der Identität und Selbstbehauptung" schreiben und konstatieren, dass sich die Theologie bislang wenig konzeptiv mit dem Selbst beschäftigt hat. Es handele sich eben um Konzepte aus einem anderen Wissenschaftsbereich. Aber andererseits, warum nicht ein Blick über den Methodenzaun? Und Bucher liefert eine erstaunliche Fülle von Forschungsergebnissen.
"Soll sich moderne Psychologie mit verstaubten Lasterkatalogen, an denen zölibatäre Männer herumschrieben, überhaupt beschäftigen? Ich meine: Sie soll es!" So der Autor am Beginn seines Vorwortes. Bucher beansprucht nicht, ein Psychologe zu sein (dass das Sammeln von Steinen noch keinen Geologen macht, weiß Bucher). Er streckt vielmehr - so meint der Rezensent- die Hand aus und sagt gegenüber unwissenschaftlichen Androhungen beim Begehen von Todsünden: " Erforderlich sind differenzierte, empirisch fundierte Aussagen zu den faktischen Effekten und Korrelaten der Todsünden" (S VIII). Der Autor referiert nach einer an der Psychologie-Wissenschaft und ihrem Aufbau orientierten Leitlinie: Zunächst folgen allgemeinpsychologische Ausführungen, wie z.B. Was ist Neid? Dann kommen differentialpsychologische Überlegungen, z.B. sind Frauen neidischer? Daran schließen sich entwicklungspsychologische Betrachtungen an, dann Überlegungen zum evolutiven Nutzen der betreffenden Todsünde und schließlich Gedanken zu klinisch-therapeutischen Aspekten. Diese formale Leitlinie steht immer im Hintergrund, auch wenn die einzelnen Kapitel unterschiedliche Gliederungsformulierungen aufweisen.
Das Buch handelt der Reihe nach die sieben Todsünden ab und verbindet die alten Begriffe teilweise mit modernen, z.B. Geiz mit seelischer Armut, Völlerei mit Binge-Drinking, Stolz mit Narzissmus, Wollust mit Sensationssuche, Sexsucht. Sadomasochismus, Missbrauch und sexueller Gewalt. Überall spürt der Autor der evolutionären Sinnhaftigkeit der jeweiligen Todsünde nach, nur bei der Wollust fehlt dieser Aspekt!
Anzumerken wäre:
- Auch, wenn es nach Theologie oder Philosophie „riecht“, eine Ergänzung hinsichtlich der allgemeinen Wesenhaftigkeit der „Sünde“ wäre als inhaltlicher Bezugsrahmen wertvoll. Der Autor liefert weder eine theologische, noch eine psychologische Definition der Sünde. Z.B. könnte eine durchaus nicht theologische, nicht philosophische, sondern sozialpsychologische Auffassung davon ausgehen, wie groß bei zum eigenen Vorteil gesetzten Handlungen der Radius der mit bedachten Umwelt und Mitwelt um die eigene Person herum gezogen wird. Im Extremfall (im Sündenfall) würde sich beim Egozentriker alles nur ganz eng um ihn selbst drehen, z.B. andere Menschen als Mittel zum Zweck ver-objektivierend. Der Egozentriker setzt sich selbst als Mittelpunkt ohne Umkreis. Sicher gibt es noch weitere „Bestimmungsstücke“ der Sünde, insbesondere der Todsünde. Welche psychologische Entsprechung gibt es, was stirbt seelisch bei der Todsünde oder ist davon bedroht??
- Der Autor will sicher nicht ins selbe Horn stoßen wie jene, die die Erörterung der Todsünden mit moralischen Imperativen verbinden. Allerdings ist auch die nüchterne Aufzählung negativer psychischer und physischer Folgen für Gesundheit und Wohlergehen eine deutliche Ansage. Trotzdem enthält sich der Autor löblich des naturalistischen Fehlschlusses (Überstieg vom Sein zum Sollen), aber es geht um etwas anderes: Da der Mensch nun eben irrtumsanfällig ist, sollte bei ev. ängstlichen, skrupelhaften, zwänglichen, Über-Ich-terrorisierten Menschen der Gedanke „einmal gesündigt und schon – Todsünde – todkrank“ nicht genährt werden, sondern durch Hinweise auf Selbsthilfen, auf Wiedergutmachungen (in der Rechtsprechung gibt es auch den Tatbestand der tätigen Reue) u. v. a. m. und –psychologisch- durch Hinweise auf das Lernen aus Fehlern kompensiert werden. Für eine Psychologie der Todsünde sollte weniger die Angst vor somatischen Folgen als die Einsicht in die sozialpsychologischen Konsequenzen egozentrischer Handlungen im Vordergrund stehen (Sünde kommt etymologisch von Absonderung, Verlassen der Urhorde, oder auch verstoßen werden von der Gemeinschaft, was allemal damals und in Mobbingfällen auch heute lebensbedrohlich war und ist). Betreffend den Nutzen der Todsünde bzw. dem Nutzen des Glaubens (ob als Hilfe für Sexsüchtige, als Prävention bei Habgier oder als Schutz vor exzessivem Trinken, oder schlicht und einfach auch wegen der höheren Lebenserwartung religiöser Menschen) ist zu fragen, ob eine derartige Pragmatik nicht die Liebesbeziehung (die der Glaube ja letztlich sein sollte) zunichtemacht. So, als ob man eine Partnerschaft anstrebt, weil einsame Menschen krankheitsanfälliger sind...
- Die liebenswürdigen kleinen Geschwister der großen Todsünden sollten eine Erwähnung finden: etwa der bärbeißige Mensch mit rauer Schale und weichem Kern wäre eine nicht immer angenehme, aber doch auch liebenswerte Zornvariante; oder der sinnenfreudige lebenssprühende und dankbare Liebhaber des Lebens als Variante zur verobjektivierenden und missbrauchenden Wollust. Der Autor weist z.T. auf die positiven Aspekte hin: z.B. auf das dopaminerge System, das die Neu-Gier auf anderes, den Geiz fördert, aber dadurch evolutiv auch Vorteile gebracht hat; auf den Neid, der beflügelt zur eigenen Leistungssteigerung; auf den 'Wandel von Arbeitsübereifer in beschauliche Trägheit; auf den berechtigten Stolz über die Zielerreichung. Vielleicht wäre aber die Verwendung positiver Begriffe noch förderlicher. Z.B. statt von berechtigtem Stolz zu sprechen von Freude über die eigene Person und Leistung (siehe z.B. Seite XI, die dem Personenprofil des Autors gewidmet ist). Vor allem ist damit – im Ausdruck „Geschwister“ erkennbar – das der modernen Psychologie und Psychotherapie vertrautere dimensionale statt kategoriale Denken ausgedrückt: Es gibt fließende Übergänge, „wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein..“
Insgesamt handelt es sich um ein sehr faktenreiches, originelles Werk. Bucher hat bereits mit seinem Buch " Psychologie der Spiritualität" (Beltz 2007) aufhorchen lassen! Der Autor beschreitet neue Wege, regt an, sich mit den sieben Todsünden als realen, maladaptiven, destruktiven Formen der Lebensgestaltung auseinander zu setzen. (Ähnlich wie ja auch die zehn Gebote als Lebensregeln aufgefasst werden können, zum Nutzen der Gemeinschaft, was insbesondere das 4.Gebot demonstriert) Es ist zu hoffen, dass der produktive Autor sich bald wieder meldet: Vielleicht mit einer ebenso spannenden "Psychologie der Tugenden"?