Gefühle machen Geschichte

Ciompi hat sein Konzept der Affektlogik bereits anfangs der 80er Jahre des 20.Jahrhunderts aus seinen Erfahrungen mit schizophrenen Patienten entwickelt. Sein Bestreben war und ist es, ein Modell zu liefern, in das sich alle jene Erkenntnisse verschiedener Wissenschaften einordnen lassen, ...

Buchtitel: Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen von Hitler bis Obama.
Autorinnen: Ciompi L u Endert E
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2011

...die sich mit dem Zusammenhang zwischen Denken und Fühlen befassen. Die Intention von Ciompi ist, die Rolle der Affekte stärker zu betonen und ihre Wirkung auf das wissenschaftliche Denken wie auch auf die Alltagslogik zu untermauern. Der Begriff der „Affektlogik“ zeigt die spezifischen Prämissen des Ansatzes auf: Wenn auch eine Einwirkung des Denkens auf das Fühlen durchaus integriert wird, liegt der Hauptakzent doch auf den qualitativen, energetischen, wahrnehmungsfokussierenden, verhaltenssteuernden Operatoreneigenschaften der Affekte. (Denkbar wäre ja auch das Umgekehrte: Ein „Denkfühlen“. Ein Ansatz, der dies betont, ist die Rational-Emotive-Therapie von Albert Ellis. Dabei spielen die (ir)rationalen Ansichten die operative Rolle und führen von zunächst interpretations-offenen Situationen zu bestimmten Deutungen und dann zu entsprechenden affektiven Reaktionen. Wieder anders wäre ein paritätisches Konzept, z.B. das syllogistische Einstellungsmodell von Jones und Gerard, bei dem sich die verhaltensrelevante Konklusion aus kognitiven und emotional/evaluativen Prämissen ergibt. In einer weiteren Auflage des Werkes wäre – auch,wenn in früheren Werken des Autors schon derartige Querverweise erfolgt sein sollten - ein verstärktes Eingehen auf diese alternativen Ansätze und anderen Akzentsetzungen – wie etwa das Denkfühlen – geeignet, das spezifische Profil der Affektlogik noch deutlicher zu machen).

Rund 10 Jahre nach der Formulierung der Affektlogik weitete Ciompi sein Konzept aus, indem er eine Fraktalstruktur im kognitiv-affektiven Wechselspiel annahm, die es ihm erlaubte, im kleinsten, individuellen Bereich dieselben grundlegenden Gesetzmäßigkeiten und Grundmuster anzunehmen wie im Makrobereich von Kollektiven. (Auch hier könnte in einer weiteren Auflage ein interessanter Bezug bzw. eine Gegenposition erfolgen etwa zum Diskurs als Sinnzusammenhang bzw. Machtabbild entsprechend den Ansätzen von Habermas bzw. Foucault, oder ein Hinweis auf Ernst Cassirers Konzept der symbolischen Form, oder auf den Begriff der tendenziösen Apperzeption und des Lebensstils nach Alfred Adler oder ein Hinweis auf den Begriff des Habitus bei Bourdieu, weiters auf den relativ jungen Begriff des Schemas, oder ein Hinweis auf den schon vertrauten Begriff der selbsterfüllenden Prophezeiung nach Merton).

Das Buch weist 7 Kapitel auf: Zunächst wird das Konzept der Affektlogik umrissen (hier wichtig die Einbeziehung systemtheoretischer Erkenntnisse, die bewusst machen, dass es bei einer fraktalen Affektlogik nicht nur um einen vergrößerbaren Maßstab und einen Zoomeffekt vom Kleinsten zum Größten gehen kann, sondern eigene Kollektivphänomene wie etwa sprunghafte Veränderungen (Kippeffekte) auftreten können. Die weiteren vier Kapitel demonstrieren die Anwendbarkeit des affektiv-logischen Konzepts auf das Phänomen des Nationalsozialismus, auf den Israel-Palästina-Konflikt, auf das Aufeinanderprallen von Eigenwelten des Islams und des Westens, sowie auf die gemeinschaftsbildende Wirkung von positiven Gefühlen und auf den universalen Hoffnungsträger Obama. Diese Analysen sind mutig und faszinierend und lassen beinahe in ihrer retrospektiven Stringenz vergessen, dass es sich um Modellierungen und dementsprechend fokussierte Betrachtungen handelt. Post-hoc-Erklärungen über geschichtliche Abläufe weisen ja immer eine argumentative Überzeugungskraft auf mit der Gefahr, einen unmerklichen Schritt von der nachzeichnenden Deskription zu deterministischen Perspektiven zu vollziehen; eine Gefahr, der die Autoren aber nicht erliegen.

Das Kapitel 6 entwirft ein neues Menschenbild: Der Homosapiens emotionalis. Dabei wird der Spieß umgedreht: Nicht die vorher von Ciompi entwickelte individuelle Affektlogik ist grundlegend, sondern das kollektive Denken und Fühlen stellt das ursprüngliche menschliche Funktionieren dar (Seite 211). Auch Gut und Böse im Menschen erhalten eine Definition aus Sicht der Affektlogik: Angst, Flucht, Aggression, Konkurrenz. Egoismus etc. werden prinzipiell ebenso wichtig erachtet wie Altruismus, Liebe, Kooperation etc. Wesentlich ist die gute Balance zwischen diesen „positiven“ und „negativen“ Affekten. (Hier wäre eine kurze Referenz zum psychoanalytischen Begriff der Triebmischung möglich). Eine gewisse Inkonsequenz zu diesem Verhältnisbegriff des Bösen ergibt sich auf Seite 214, wo der Mensch als notwendigerweises Gemisch von „ gut“ und „böse“ angesehen wird und das Böse einen Eigenschaftsbegriff darstellt. Andererseits wird für ein 51%iges Überwiegen „positiver“, d.h kooperativer Leitaffekte über deren aggressive Gegenspieler plädiert. Diese Ausführungen wirken dementsprechend noch etwas unschlüssig. Sehr zum Nachdenken anregend ist die Auffassung, dass das Schöne sich aus dem stimmigen Gleichgewicht zwischen Fühlen und Denken, zwischen der affektiven Energie und der Kanalisierung ergebe (Seite 219).Sehr interessant ist das abschließende Kapitel 7, bei dem es um die Konsequenzen des affekt-logischen Ansatzes geht. Eine direkte Auswirkung wird bereits auf Seite 182 geschildert: Die therapeutische Wohngemeinschaft „Soteria Bern“, die die Affekte und ein wohltuendes, ausgewogenes, entspanntes Beziehungsklima besonders ernst nimmt.

Im Kapitel 7 ergibt sich die Pikanterie, dass Gefühle das Zentrum darstellen, aber die Ausführungen im Kapitel 7 eigentlich rationale Reflexionen darüber sind. Aber die Autoren bringen hier ein versöhnliches Bild: Platons Vergleich mit dem Wagenlenker (Vernunft), der ein Gespann von einem weißen und einem schwarzen Pferd (Gefühle) zu steuern hat. Ohne die Pferde käme er nicht vom Fleck, aber ohne Wagenlenker letztendlich auch nicht. (Die Frage ist allerdings, ob die Affektlogik mit ihrer qualitativen dynamischen Rolle der Affekte und der quantitativen, differenzierenden Aufgabe der Vernunft nicht implizieren würde, dass die Pferde mächtig anziehen und der Wagenlenker im nachhinein registriert, dass sie Futter gewittert haben). In einem Abschlussgleichnis sieht Ciompi im Schwarmverhalten von Bergdohlen ein Abbild kollektiven Überlebensverhaltens mit allen dazu gehörenden Funktionen und Differenzierungen.

Kein Zweifel: Das Buch ist außergewöhnlich und auf jeden Fall lesenswert, ob man das Konzept übernimmt oder eine kritische Position einnimmt! Ein fesselnder Stil und eine Stellungnahme provozierende Thesenbildung machen das Buch zu einer Herausforderung für das Fühlen und Denken!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
14.04.2011
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/gefuehle-machen-geschichte.html
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