Freie Fundamente
Das Thema des Buches ist hochaktuell. Im Trend liegen nämlich Zusammenstellungen von Methodenpaketen für bestimmte Indikationen, z.B. ein spezifisches Inventar für Depressionen oder für Borderline-Erkrankungen oder für Traumatisierungsstörungen. Dabei hat man oft den Eindruck, dass...
Buchtitel: Freie Fundamente. Wissenschaftstheoretische Grundlagen für eklektische und integrative Theorie und Praxis.
Autorinnen: Richter J
Verlag: V&R Unipress
Erschienen: 2011
..."genommen wird, was brauchbar erscheint", auch wenn der Ursprung dieser Methoden in möglicherweise sehr weit voneinander entfernten therapeutischen Auffassungen über den Menschen, seine Gesundheit, seine Pathologie liegt. Wie kann das legitimer Weise erfolgen? Denn der Autor spricht sich gegen "einen ´post-modern` inspirierten eklektischen Pluralismus, im Sinne eines missverstandenen ´anything goes` aus (S 35).
Der Autor hat sich das Ziel gesetzt, seine Ausbildungen und Berufserfahrungen in der Psychomotorik bzw. Mototherapie zum Ausgangspunkt für Überlegungen zu machen, wie man eklektisches und integratives Vorgehen gleichermaßen zu seinem Recht verhelfen kann. Die dem Buch zugrundeliegende Dissertation kommt in ihrer theoretischen Erörterung mit zwei Schritten zum Ziel: Erstens der Nachweis, dass allen Theorien die Letztbegründung fehlt. Alle sitzen sozusagen im gleichen Boot - und sind daher im Grunde gleich viel wert. Zweitens nimmt der Autor ein Bewusstseinsphänomen, nämlich eine erkannte und erlebte Evidenz in Form eines "Mich-betreffend" zum Angelpunkt seiner Argumentation. Diese Evidenz ist eine Entscheidungsinstanz, die trotz unsicherem Boden relative Sicherheit spendet. Nach einer Einführung überlegt der Autor in einem zitatenreichen und subtilen zweiten Kapitel, wie man eine Integration erkenntnistheoretisch vornehmen kann, wie man ohne Reduktion integrieren kann, wie Ganzheitlichkeit als grundsätzliches Offenhalten für verschiedene Perspektiven gelebt werden kann, wie man Erklären und Verstehen miteinander verbinden kann u. v. a. m. Im dritten Kapitel wird gezeigt, wie Eklektizismus und Integration in Konzeptentwicklung, Forschungsmethoden, als Vorgehen in der Praxis miteinander versöhnt werden können. Das abschließende vierte Kapitel nimmt mögliche Einwände vorweg wie z.B. Rationalismus, Relativismus und verteidigt seine Bindung an die Sprache. Einige, in diesem Abschlusskapitel - bis auf die Sprache- nicht erwähnten Fragen, die sich der Autor zusätzlich stellen könnte, seien nun angeführt bzw. als Anregungen formuliert.
Die im Subtitel gebrauchte Wortkombination "eklektische Theorie" provoziert, während hingegen das Gegenstück "integrative Theorie" (etwa als Rahmentheorie, als Metatheorie) durchaus harmonisch erscheint. Wahrscheinlich wäre die Rede von einer eklektischen Umgangsweise mit verschiedenen Theorien(-ansätzen), allgemeiner von einer eklektischen Datenverarbeitung oder Informationsverwertung auch möglich. Dieser eklektische Umgang mit verschiedenen Wissensquellen kann durchaus intersubjektiv überprüfbare Aussagen präferieren, muss sich aber der Frage stellen, ob die Methoden der Aussagengewinnung beliebig kombinierbar sein dürfen, und schließlich ergibt sich die Frage, ob eklektisches Vorgehen einen konsistenten Zusammenhang herstellen kann, auch wenn der gemeinsame Sachbereich und die Pragmatik des Nutzens ein definiertes Magnetzentrum für die einzelnen Wahrheitsspäne darstellen. Addition oder Assimilation, das wäre die Grundüberlegung, und der Autor verspricht, dass beides gleich gelten soll. Richter nimmt als diesen Bezugspunkt den Menschen selbst in allen seinen Facetten und mit seiner Situation und Geschichte, findet das aber nicht befriedigend (S 19). Diese praktische Lösung ist doch überzeugend und in ihrer Schlichtheit einsichtig? Inwiefern ist sie wirklich „weniger“ als die später erfolgende Konstruktion einer fehlenden Letztbegründung und Notwendigkeit einer Urentscheidung und das Bekenntnis zur Evidenz als Kompass der Entscheidung?
Auf Seite 112 bis 117 ringt der Autor um die letztendliche Erkenntnis, dass der Mensch nicht spezifisch rational zu bestimmen ist, sondern auch aus Gefühlen und Werten besteht. In der Diktion des Autors lautet diese Entdeckung: "Den Menschen als "Non- proprie-homo-rationalus" zu sehen ermöglicht, ..den Menschen als zugleich fühlendes, handelndes, intuitives, denkendes etc. Wesen zu sehen." (S116) Was wurde durch diese tautologische bzw. analytische Aussage gewonnen?
Auf Seite 91 bis 103 betreibt der Autor eine "formale Buchhaltung" (der Begriff wird nicht näher begründet, legt aber nahe, dass bereits alles Wissen vorhanden ist und nur richtig verbucht werden muss). Der Autor will dabei logisch-argumentativ zeigen, dass Aussagen nicht letztgültig zu beweisen oder zu widerlegen sind (man denkt an Gödel mit seinem Unvollständigkeitssatz). Es werden dabei mit Paragraphen gekennzeichnete Aussagen mit traktatähnlicher Prägnanz und Bedeutungskomprimierung formuliert. Z.B. "Gedachtes ist in Sprache". Was meint der Autor damit? Ist Sprache die notwendige Grundlage, die Struktur des Denkens oder ein Medium der Mitteilung? (S 92) Weiter heißt es:" Symbole müssen definiert werden. Umso abstrakter Symbole umso eindeutiger sind sie definiert." ( S 92) Welchen Symbolbegriff hat der Autor? Welche Symbole brauchen eine Definition? Hier könnte der Autor etwas mehr dazu ausführen. Und: Was hier als Zusammenhang zwischen Abstraktion und Eindeutigkeit formuliert wird, ist das für Richter noch etwas Anderes als die bereits bekannte Polarität von Zeichen und Klischee? Paragraph 1.2. formuliert: "Theorie ist in Sprache gefasstes Denken..Damit ist jede Theorie zwingend der Ratio folgende." ( S 93) Ist wirklich jede Rede rational? Ist das Denken in Bildern, die imaginative Assoziation rational? Wie verhält es sich mit Poesie? Es wäre lohnend, die primärprozesshafte Sprache der Träumenden in den Imaginationstherapien ins Visier zu nehmen. Dabei äußert sich der Autor ja selbst kritisch gegenüber dem Versuch, Philosophie als Sprachkritik zu betreiben bzw. an einer formalen Sprache zu orientieren (S 74f). Und er fasst die Möglichkeit, dass sich eine 'Theorie finden lässt, welche nicht in Sprache gefasstes Denken ist, zumindest ins Auge (S 92). Die "formale Buchhaltung" will zeigen, dass nur der Zweifel unwiderlegbar ist und sich alles Weitere durch Evidenzen und Transzendierungen ergibt, wobei die Sprachrationalität strukturgebend ist. Da dies von allem Gedachten gesagt werden kann, hat alles einen gleichermaßen legitimierenden Ursprung und der Rationalitätsvorsprung der Theorie ist somit, geht es nach dem Autor, so eingeholt, dass Richter die Notwendigkeit verspürt, die Meinung, es sei keine Theorie mehr notwendig, durch viele Argumente zu entkräften ( S184 - 212).
Auf den Seiten 117-132 wird eine "Entscheidungsinstanz" eingeführt, das "Mich betreffend", dessen Status dem Rezensenten nicht klar wird. Daher die Frage an den Autor: Ist das eine neurobiologisch aufspürbare Schaltstelle, wohl kaum? Ist es ein Bewusstseinsphänomen wie ein Gedanke, eine Erkenntnis, ein Urteil, ein Erleben, eine Rückbezüglichkeit? Und wenn es eine Erkenntnis ist, dass etwas mich betrifft, ist das dann nicht ein kognitiver Akt, der keine Instanz darstellt und keine Entscheidung vornimmt? Ist Evidenz nicht ein Begleitphänomen oder Vorlaufphänomen für eine Entscheidungshandlung, eine Art Markierung oder Indizierung, die die Entscheidung bei mehreren Alternativen erleichtert oder sich schon an einem Punkt befindet, wo keine Alternativen mehr da sind, weil "nicht-anders-zu-denken"? Wird mit einer Evidenz als Entscheidungsinstanz eine "Verphilosophisierung" eines psychischen Prozesses, d.h. einer von der Erkenntnis ausgelösten emotionalen, evaluativen, voluntativen Dynamik vorgenommen?
Wenn auf Seite 139 allen Theorien attestiert wird, dass sie prinzipiell unentscheidbar sind, dann heißt dies nicht - und das meint auch der Autor nicht, dass sie nicht unter-scheidbar sind: Zwischen etwa den Theorien der Verhaltenstherapie und der tiefenpsychologischen Psychotherapie bestehen leicht erkennbare, deutliche Unterschiede, auch wenn beide leicht ineinander übersetzbar sind. Dasselbe gilt für alle anderen Psychotherapieformen auch, die ja zur Aufnahme in ein Register anerkannter Methoden des Nachweises einer eigenständigen Formulierung eines zugrundeliegenden Menschenbildes, einer eigenständigen Methodik etc. bedürfen. Diese Differenzen gilt es zu berücksichtigen. Der Autor sieht diese Unterschiede auch selbst, und zwar in den verschiedenen Setzungen nach der Urannahme. Allerdings wäre hier ein praktisches Beispiel oder Aufzeigen von konkreten Schritten hilfreich. Hier bleibt aber – vom Autor beabsichtigt - alles offen: " Wie jedoch, welche Theorien, theoretische Positionen verbunden werden, wie, wann und wozu welche Positionen angewandt und modifiziert werden, entscheidet jenes jonglierende ´Mich betreffend` aufgrund erlebter und erkannter Evidenzen .." (S177).
Manche Formulierungen von Richter erinnern in ihrer Verschränktheit an die Formulierungslabyrinthe von Heidegger. Z.B. auf Seite 129:"Urheberschaft eines ´Mich-betreffend` einer Entscheidung dieses ´Mich-betreffend` ist formal also nur dann auf sie zurückzuführen, wenn dieses ´Mich-betreffend` die Urheberschaft anerkennt, sich also dafür entscheidet, mithin dann, wenn ein ´Mich-betreffend` als Entscheidungsinstanz gilt (entschieden ist)". Der Rezensent gesteht, dass er früher geneigt war, die Schuld für das Nicht- Verstehen eines derartigen Satzgewindes bei sich zu suchen. Dieser Ehrgeiz treibt ihn nun nicht mehr an: Wenn - um Wittgensteins Verdikt weiter auszulegen- etwas nicht klar und verständlich formuliert ist, muss es nicht gelesen werden. Könnten manche Aussagen leichter verdaulich formuliert werden? Abgesehen davon wirkt die Personifizierung von Freuds Ich, Es und Über-Ich blass gegenüber der Subjektivierung des ominösen "Mich-betreffend", das immer schon da ist, beim Denken schon vorausgesetzt ist, Entscheidungen trifft, Verantwortung übernimmt, in Schwebe hält usw. Wie hat man sich dieses "Mich betreffend" vorzustellen (als Homunculus oder Deus ex machina wahrscheinlich nicht) und sein kompliziertes Verhältnis zu einem" Mich (noch) betreffend", das der Autor auch noch einführt, und was hat es mit einer sogenannten "erkannten Evidenz" auf sich? (Was ist eine unerkannte Evidenz? Gibt es eine unbewusste Evidenz? Oder sagt der Autor mit "erkannter Evidenz" eigentlich: Eine auf rationalem Wege gewonnene Evidenz, zum Unterschied von einer nicht durch Denken, sondern Fühlen, Intuieren, Werten gewonnenen "erlebten Evidenz"?)
Eine Sache von mehreren Perspektiven zu betrachten, ist sicher wertvoll. Aber dieses eklektische Kaleidoskop braucht eine gemeinsame Fassung und verträgt hierarchische Unterschiede (d.h. eine unterschiedliche Größe der Puzzlesteine, je nachdem, wie (zwar relativ, aber dennoch) abgesichert, die jeweilige Erkenntnisgewinnung vor sich ging. Der Autor wendet sich selbst gegen pragmatische Beliebigkeit und ausschließliche Präferenz des Funktionierens (Seite 109).
Eine Bitte zum Schluss, die der Autor mit seiner hohen Wertschätzung der Sprache gerade deshalb nicht als kleinkarierte Kritik empfinden, sondern lächelnd berücksichtigen wird: Für eine Neuauflage bedarf das Werk einer eingehenden Textkontrolle, es gibt z.B. viele Unregelmäßigkeiten bei der Großschreibung und die lateinischen Einfügungen und die eine griechische Einfügung müssen richtig gestellt werden, wenn vom "proprie homo rationalus" (Hervorhebung vom Rezensenten) gesprochen wird (S 38, S 112-117) oder vom "quit iuris" (S 76, Hervorhebung vom Rezensenten), oder von "noethisch" ( S 146, 147, Hervorhebung vom Rezensenten) oder von der "reducio" ( S 61).
Das Coverbild des Buches zeigt ein verbarrikadiertes Haus, das in der Luft schwebt. Eine treffende Illustration der "freien Fundamente", die fast vergessen lässt, dass wir alle, auch der Autor, "normaler Weise" in einem Haus wohnen, dort leben, arbeiten, Bücher schreiben..
Die offene Letztbegründung beunruhigt nicht so sehr, wie der Autor meint. Wir werden das Problem nicht lösen, wie Atlas die Welt trägt, ob er selbst auf einer Schildkröte steht und diese wieder.. Aber das bedeutet nicht die Bodenlosigkeit oder Einebnung der Standpunkte. Nur weil man noch nicht zur letztgültigen Versöhnung von Relativitätstheorie und Quantenphysik vorgestoßen ist, heißt das nicht, der Physik-Wissenschaft aufzukündigen. Wir können nicht zum Erdkern der Erkenntnis vorstoßen, aber ausreichend tief ins Erdreich vordringen, um ein Fundament darauf zu stellen, auch wenn der Boden sumpfig ist.
Aber das weiß auch der Autor, im Vorwort spricht er davon, dass Wissenschaft auch ohne Letztbegründung auskommt und alles wissenschaftlich Erarbeitete bestehen kann, nur eine Haltungsänderung notwendig ist ( S 17), damit alles bestehen bleiben und zugleich alles in Schwebe gehalten werden kann. Es ist ein zu vielen - wie beispielhaft angeführt - kritischen Anfragen herausforderndes Buch, dessen Hauptintention der akzeptierenden Offenheit sich dem Leser aber nachhaltig einprägt! Dieser Appell ist es, der die Botschaft Richters wichtig macht!