Fragen - Lösen - Fragen. Philosophische Potenziale für Therapie, Beratung u. Organisationsentwicklung
Gleich bei den Anmerkungen zum Gebrauch des Buches (Seite 11) hebt der Autor die Souveränität des Lesers hervor und beteuert, dass er nichts "lehren" möchte; "dieses Ansinnen wie der damit verbundene Gestus sind mir fremd und erscheinen mir geradezu unphilosophisch."
Buchtitel: Fragen - Lösen - Fragen. Philosophische Potenziale für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung
AutorInnen: Thomas Stölzel
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2014
Zum Inhalt
Der Leser soll ganz im Gegenteil selbstverantwortlich entscheiden, was er nutzt, ausprobiert. Für Stölzel ist diese negative Einstellung zum "Lehren" mehr als nur rhetorischer Gestus. Er plädiert auf Seite 228 dafür, dass jeder Mensch (mehr oder weniger) Fachmann für sich und damit auch für sein Leben werden könnte. Nun muss man "Lehren" nicht so negativ verstehen. Wird "Lehren" betrachtet als: Grundlagen zur Verfügung stellen, aufgrund derer Überprüfungen, Selektionen, Arbeit am Selbst stattfinden können, dann ist "Lehren" durch und durch basal, propädeutisch philosophisch und vermittelt ein Vokabular, mit dem sich der Philosophierende verständigen kann. Und Stölzel bringt ja selbst viel ein: Empfehlungen, Bezüge, Perspektiven (Seite 11) und im ganzen Buch über 40 Übungen!
Zunächst setzt sich der Autor mit wichtigen Konzepten auseinander, z.B. mit dem Sinn und Unsinn von Unterscheidungen. Er setzt sich weiter auseinander mit der "Lebenskönnerschaft" (die mehr auf Fragen aus ist als auf Antworten), mit "Life-Coaching" (der Übertragung von Arbeitsthemen auf Lebensthemen). Im Spruch "Erkenne dich selbst" sieht der Autor auf Seite 21f eine Verbindung zwischen der philosophischen Erkenntnissuche (Erkenne...) und der psychologischen Selbsterkundung (dich selbst!), meint kurz vorher auf Seite 18, dass Psychologie lange Zeit selbstverständlicher Teil der Philosophie gewesen sei und auf Seite 21, dass philosophische Vorgehensweisen umfassender Aufklärung und Unterstützung leisten können als Beratung und Therapie, weil diese einem bestimmten anthropologischen Modell folgen, während jene von Metamodellen ausgehen. Diese Meinungen des Autors kann man durchaus in Frage stellen, etwa mit dem Hinweis, dass die Suche nach den Möglichkeiten der Erkenntnis nicht einseitig an die Philosophie gebunden ist, wie der sogenannte Psychologismus-Streit als Kampf um die psychologische oder philosophische Priorität der Erkenntnis (Evidenz versus Erfahrung) zeigt; oder dass die Therapie sehr wohl die Metaebene reflektiert und nicht vorher auf der Stufe der Anthropologie stehen bleibt.
Nach den einleitenden Überlegungen wenden sich die fünf folgenden Kapiteln sogenannten Methodenporträts zu. Hinter diesem Kunstwort steckt die Intention, unter einem jeweiligen Leitwort Anregungen, Einladungen zum Reflektieren zu skizzieren, wobei es ein Wunsch des Autors ist, dass der Leser selbst seine Einfälle und Ideen einarbeitet. Jedes Methodenporträt bietet einen Einblick in spezifische Zugänge, Perspektiven für Beratung, Fortbildung und Seminararbeit (Seite 42). Die fünf Methodenporträts thematisieren als reflektierte Anthropologie das Menschenbild, als Lebens- und Meinungsgeschichten die sog. epistemologische Biographie; weiter die Selbstsorge und Fremdsorge (mit dem Leitbegriff "Askese - Übung"); unter dem Leitbegriff "Begegnung" geht es viertens um philosophische Dialogformen und schließlich fünftens um Wissen und Nichtwissen, d.h. kritische Epistemologie unter dem Leitbegriff "Sicherheit". Der Autor hat damit ein interessantes "Denk-Paket" zusammen gestellt; seine Auswahl begründet er allerdings nicht.
Im Anhang beschreibt der Autor den fünfstufigen Weg ( eine Art Treppe mit den Stufen "Reflektierte Anthropologie", darüber die Stufe "Persönliches Wertsystem", darüber "Umgang mit sich selbst", und wieder die nächste Stufe hinunter "Dialogformen" und wieder auf der Ausgangsebene landend "Wissensgewissheit". Dieser fünfstufige Weg wird als Modell für Paar-, Team und Organisationsentwicklung angewendet und findet im Buch zahlreiche Unterlegung durch Übungen, theoretische Hinweise, Literaturzitate u. v. a. m.
Diese Fülle auszubreiten, bringt auch die Gefahr mit sich, offene Flanken für Kritik anzubieten. Einige Kritikpunkte seien kurz angeführt: So muss auf die Abstraktionshöhe der Übungs-Fragestellungen kurz hingewiesen werden, - auf Seite 17f wird eine sehr komplizierte Selbstbefragung angeregt: Wann die persönliche Vollständigkeitsgrenze bei Betrachtung von Problemen, Fragen aus unterschiedlicher Perspektiven erreicht sei. Oder etwa "Wie verändern sich Person, Thema, Frage oder Problem, wenn ich sie zum Beispiel durch eine philosophische, psychologische,..linguistische "Brille" betrachte?" (Seite 17). Oder: "Wie ist die anteilige Gewichtung der "Personen" im Prozess des Dialogs (kommunikativer Fokus)?" Seite 60. Ob diese Form der Fragen eine ganzheitliche, d.h. auch emotionale, Antwort hervor rufen kann, darf bezweifelt werden.
Auf Seite 32 wird in einem großen Schwung den psychoanalytischen Modellen Substanzlastigkeit, den personenzentrierten Modellen Empathielastigkeit und den systemischen Modellen Relationslastigkeit zugeschrieben. Weder werden die Begriffe geklärt, noch werden die Zuschreibungen begründet. Ebenso könnte man die oben angeführten Leitbegriffe als "Lastigkeit" "definieren"! Wer entscheidet, was Fokus ist und was Lastigkeit?
Auf Seite 64 wird eine Selbstprüfung angeregt:"Wie echt bin ich, verhalte ich mich?" Dazu werden Fragen gestellt wie: "Bildet Authentizität bzw. authentisches Verhalten so etwas wie den "Kern" meiner Identität?" Tiefenpsychologisch ausgerichtete Therapeuten werden hier wahrscheinlich konstatieren, dass damit bestenfalls eine Rationalisierung, Intellektualisierung (also intellektuelle Scheinbegründung) erreicht werden kann. Aber allgemein erhebt sich die Frage, ob eine so gestaltete Selbstbefragung die einstellungsbedingte Wahrnehmungsfilterung überwinden kann - selbst, wenn den eigenen Reaktionen auf die Fragen oder Antworten nachgespürt werden soll (siehe Empfehlung auf Seite 13).
Auf Seite 127 wird Askese als Übung übersetzt, dies sollte dazu führen, den Ausdruck Askese allein anzuführen und nicht Askese-Übung (was ja so viel heißen würde wie Askese-Askese, Übung-Übung).
Ein kritischer Punkt sei noch hervor gehoben. Auf Seite 107f wird zu einer achtsamen Imagination der eigenen (gemeint seelischen) Innenräume angeregt. So unbedenklich, wie der Autor es schildert, ist dieses Vorgehen nicht. Bei Personen mit Strukturpathologie können leere, verlassene, desolate Räume auftauchen und in der erfassten Bedeutung als Abbild der inneren Wirklichkeit einen Schock auslösen.
Während der Autor in seinem voran gegangenem Buch die philosophischen Kompetenzen Staunen, Humor, Mut und Skepsis beschrieb, geht er im vorliegenden Werk von unterschiedlichen Zugangsmethoden aus. Er gestaltet dies in anschaulicher Form, mit spürbarem Engagement und vielen anregenden Übungen und Fragen zur Selbstkonfrontation. Das Buch bietet ein nachvollziehbares Konzept, wie man philosophisch an Probleme in verschiedenen Settings heran gehen kann. Z.B. ist die sokratische Erschütterung bisher als feste Basis gedachter Glaubenssätze eine klassische Methode (Seite 173 bis 195).
Während die in einem früheren Werk beschriebenen Kompetenzen Staunen, Humor, Mut und Skepsis als Phänomene auch Nichtphilosophen vertraut sind und keiner "Legitimation" bedürfen, stellen die Methodenporträts einen kritisierbaren Entwurf dar, vor allem, was die direkte "Erfragbarkeit" innerer Befindlichkeiten und Haltungen etc. anbelangt. Dieser Gefahr und der Grenzen der vorgeschlagenen Selbsterkundungsweise und auch der Problematik der Rationalisierung und Intellektualisierung eingedenk kann gesagt werden:
Die Brauchbarkeit und Fülle der Anregungen in diesem Buch erschließt sich dem Leser nach und nach und das Konzept der fünf Methodenporträts wird bei jedem neuerlichen Lesen nd Anwenden griffiger, wenn auch darüber hinaus jede Menge Fragen, Antworten, Fragen entstehen, wie der Autor auch zum Abschluss seines Buches betont - und nicht zuletzt auch der Titel des Buches!