Embitterment
Im Vorwort wird eine ökonomische Begründung für dieses Buch geliefert: Die Deutsche Bundespensionsversicherung interessiert sich entsprechend dem Prinzip "Eher Rehabilitation als Pension" für die Untersuchung der Verbitterung als Faktor von Gesundheitsstörungen bzw. psychischen Erkrankungen.
Buchtitel: Embitterment. Societal, psychological and clinical perspektives.
Autorinnen: Linden M u Maercker A
Verlag: Springer
Erschienen: 2011
Die Einleitung differenziert die Verbitterung von anderen negativen Emotionen wie Depression, Hass, Zorn, Hoffnungslosigkeit durch das Vorhandensein von Selbstvorwürfen und dem Spüren von Ungerechtigkeit. Verbitterung hat einen intensiven Selbstverstärkungscharakter. Die folgenden Ausführungen umkreisen kaleidoskophaft das Phänomen der Verbitterung: Verbitterung als Hoffnungslosigkeit bei externer Kontrollierbarkeit, Verbitterung und Hoffnungskonzepte, Verbitterung und Justiz- , d.h.Gerechtigkeitspsychologie, Verbitterung und posttraumatische Rache, Weisheit als entwicklungsmäßiges Gegenstück zur Verbitterung, Persönlichkeit als Moderatorvariable in Bezug auf das Risiko der Verbitterung oder Resilienz dagegen, neurologische Korrelate von sozialem Ausschluss und sozialbedingtem Schmerz. Ein weiteres Kapitel untersucht den Kontext der Verbitterung: Beziehungen, Selbstregulation, Verlust des Lebenssinns, Arbeitsplatzbedingungen, Verbitterung in Asien z.B. als Gesichtsverlust, Persönlichkeitsstörungen u.a. als Risikofaktoren für Verbitterung.
Das darauf folgende Kapitel 4 trägt den gleichen Titel wie das Kapitel 3, nämlich Kontext der Verbitterung. Wahrscheinlich hat sich hier ein Fehler eingeschlichen und Kapitel 4 lautet eigentlich Therapie der Verbitterung, denn es bringt Fallvignetten, Überlegungen zur "Vergebungs-Therapie", zur "Weisheitspsychotherapie" mit einem Abstecher in Erörterungen zum Konflikt und zur Verbitterung in Nordirland. Das fünfte Kapitel versucht eine Klassifikation der Verbitterung und diskutiert verschiedene Zugänge wie Verbitterung im Selbstmord oder erweiterten Selbstmord, posttraumatische Verbitterungsstörung, Klassifikation von Funktions-Fähigkeit oder Unfähigkeit, die Rolle von Stressoren u. v. a. m.
Das Buch breitet also einen vielfärbigen Fächer aus, das Vorgehen erinnert an phänomenologische Studien, bei denen jeweils etwas Bestimmtes fokussiert und aus diesem Blickwinkel das Ganze betrachtet wird - nur dass die Betrachtungen hier sich nicht mit rationalen Begriffsentfaltungen befassen, sondern die Überlegungen mit empirischen Daten untermauern.
Das Buch ist lesenswert, man erfährt viel über Verbitterung und darüber hinaus. Zwei kleine kritische Anmerkungen seien gestattet. 1) Vorliebe für Modellbildung: Diese an sich stellt noch keinen Kritikpunkt dar, aber ob die Aufzählung von vier zwar erläuterten, aber in ihrer Selektivität nicht näher begründeten und in ihrem Zusammenwirken nicht eingehender beschriebenen Ressourcen (Meisterschaft, Offenheit für Erfahrung, Reflektierende Einstellung und Emotionsregulierungsfertigkeiten - die Anfangsbuchstaben ergeben das Akronym MORE ) es schon erlaubt, vom MORE wisdom model zu sprechen? (Seite 77).
Ein anderes Beispiel: Auf Seite 49 wird ein hypothesized process modell of revenge abgebildet. Durch die grafische Anordnung merkt man erst nach einiger Betrachtung, dass Emotionen und Kognitionen sowohl Rachephänomene hervorrufen können als auch ihr Gegenteil nämlich Vergebung, ohne dass "eine Stellvariable" angeführt wird, die diese zwei gegensätzlichen Auswirkungen erklärt. Denn die angeführten "Motivationalen Faktoren Selbstachtung und Selbstwirksamkeit" beeinflussen nur den Weg von Emotionen und Kognitionen in Richtung Rachephänomene.
2) Ein zweiter Punkt betrifft nicht das Buch bzw. die Autoren im besonderen, weil das anzuführende "Problem" über das Buch hinaus reicht: Es scheint so zu sein, dass eine Bereitschaft besteht, neue Therapien zu kreieren, meist mit klingendem Namen, wie z.B. forgiveness therapy oder wisdom therapy. Gerade bei letzterer wird ja auf Seite 211 selbst vermerkt, dass es sich um einen Teil der kognitiven Verhaltenstherapie handelt. Könnte man es nicht dabei belassen, anstatt mit einer aufrüttelnden Bezeichnung und - durchaus interessanten - Übungen mit dem Gedanken zu faszinieren, man könnte in relativ kurzer Zeit Lebensweisheit erwerben? Wobei die grundsätzliche Fragestellung, wie es dazu kommt, dass jemand verbittert wird im Lauf seines Lebens und ein anderer weise, durchaus als wertvoll erachtet wird.
Insgesamt ist das Buch eine wertvolle Bereicherung des diagnostischen Verständnisses und therapeutischen Handelns und eine geglückte Verbindung von Empirie und rationaler Diskussion!