Die Psychologismus-Kontroverse

Diese Dialogreihe möchte den Gedankenaustausch zwischen Psychologen und Philosophen unterstützen, indem jeweils zwei Fachvertreter unabhängig voneinander ihre Positionen zu einem bestimmten Thema (z.B. Gesellschaft, Gewalt, Leib und Körper) darlegen und dann in einem Briefwechsel Stellung...

Buchtitel: Die Psychologismus-Kontroverse. Philosophie und Psychologie im Dialog.
Autorinnen: Loh W u Kaiser-el-Safti M
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2011

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In der um 1900 kulminierenden Kontroverse zwischen Philosophen und Psychologen ging es sowohl "idealiter" um die Frage, welche Fachdisziplin grundlegender sei, als auch "materialiter" um die Besetzung von Pfründen (Lehrstühle, Machtpositionen). Die in dieser Auseinandersetzung zwischen philosophischen Purismusbestrebungen (Wahrheit, Allgemeingültigkeit, Objektivität, Grundfragen der Ästhetik und Ethik sollen von psychologischer Empirie möglichst unkontaminiert bleiben) und dem Wissenschaftsanspruch der Psychologie führte zu bis heute spürbaren Folgen, eine "Psychologie ohne Seele" mit Überbetonung der Methodik einerseits und epistemische Defizite der Philosophie andererseits.

Kaiser-el-Safti führt in ihrer geschichtlichen und systematischen Betrachtung einige Frontstellungen zwischen Psychologie und Philosophie an. Da standen einander gegenüber die Tatsachenwissenschaft und die reine Seelen-, Geist- bzw. Vernunftlehre. Die formale Wissenschaft der Logik nahm in ihrer objektiven Erkenntnis eine Gegenposition zum subjektiven Denkprozess ein.

Husserl, Leitfigur der Konfrontation auf Philosophenseite monierte eine allem Erkennen zugrundeliegende Wesensschau. Gegenüber diesem transzendentalen Anspruch wehrte sich die Psychologie und die Autorin ermuntert die Psychologie dazu, mit den eigenen Mitteln Erkenntnistheorie zu betreiben (S 13). Sie beschreibt auf den folgenden Seiten die Entwicklung, die zum Psychologismusvorwurf führte. Es gab ein Auf- und Abwogen der Standpunkte und durchaus auch vermittelnde Bemühungen etwa Herbarts Ansatz eines philosophisch reflektierten Realismus auf psychologischer Basis. Aber es gab auch Gegenpositionen, wie z.B. in der Sinnespsychologie, die der von Kant wenig beachteten Erfahrung ihr wissenschaftliches Interesse widmete. Kants Spaltung zwischen spontaner Intellektualität und passiver Sinnlichkeit wurde angegriffen, Stumpf warf die Frage auf, inwieweit die Wahrnehmung die Bedingung der Erkenntnismöglichkeit überhaupt sei. Generell stand dahinter die Frage des Verhältnisses zwischen empirischer und apriorischer Erkenntnis. Der Psychologismusvorwurf nahm die Psychologie in die Zange: Die philosophische Seelenlehre berühre Bereiche, die die Erfahrung überschreiten und somit die empirische Psychologie. Und weder eine das Gute, Wahre und Schöne ignorierende , noch eine dies respektierende Haltung der Psychologie sei akzeptabel. Die von Husserl monierte Wesensschau hing von einem idealistischen Bekenntnis zu Letztbegründungen ab - was auch prompt zu einem Mystizismusvorwurf führte. Ein schweres Geschütz fuhr Brentano auf, wenn er auf die Intentionalität des Psychischen hinwies, was Linke dann nochmals aufwarf: Vor allem logischen Verhalten muss die psychologische Möglichkeit, sich auf Außerpsychisches zu beziehen, überlegt werden. Wegen der Dichte der Darstellung ist es nicht möglich, alle referierten Positionen und Gegenpositionen hier Revue passieren zu lassen wie etwa die Skepsis gegenüber der trügerischen bzw. fehlbaren Sinneserkenntnis auf der einen Seite und der Behauptung von Hume, dass Erkenntnis auf Sinneseindrücke beschränkt sei. Stellvertretend sei hier noch angeführt das schwerwiegende Argument von Hume, dass Existenzialurteile keine wirklichen Aussagen darstellen, sondern nur den psychischen Akt des Glaubens an den "existierenden" Gegenstand ausdrücken, womit auch der ontologische Gottesbeweis(Gott ist vollkommen, er hat alle Eigenschaften, daher existiert er auch) als unerlaubter Sprung vom Logischen zum Ontologischen entlarvt war und in weiterer Folge Letztbegründungen ihre Attraktivität verloren. Die Autorin befasst sich weiter mit Stumpfs phänomenologischer Fundierung der Erkenntnis (d.h. für alle Begriffe äußere oder innere Erfahrung heranzuziehen. Begriffe sind der Wandlungen unterworfene Gegenstand, auf den sich phänomenologische Betrachtung bezieht), seiner Logik der Erscheinungen und seiner Theorie der Urphänomene, der konstanten Tiefenstruktur im Sinnlichen, sein Kampf gegen die falsche Trennung von Materie und Form, seine Auseinandersetzung mit zentralen Annahmen von Kant, etwa auch den Auffassungen von Zeit und Raum, u. v. a. m. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Autorin viele markante Wegzeichen für die Rolle der Psychologie in der Erkenntnissuche beschreibt. Köstlich auch die Anmerkung ( S 47f), wie Stumpf mit einem kleinen Experiment (auf einen Ruhepunkt blickende Augen nehmen Gegenstände sofort und simultan wahr) die Philosophen nervös machte und die bis dahin bestehende philosophische Meinung von der sukzessiven Augenbewegung für die Raumwahrnehmung erschütterte (allerdings weisen moderne Blickstudien auf dieses "Abtasten" hin, ohne dies aber als konstitutiv erforderlich zu betrachten).

Kaiser-el-Safti resümiert selbst , dass eine neue Akzentsetzung der Psychologie nötig sei: weg von einem einseitigen Methodenfetischismus und hin zu einem Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und konkreter, lebensweltlich relevanter Psychologie.

Der Philosoph Loh bezieht keine Position gegen die Psychologie, sondern eröffnet eine ganz neue "Front": Seine Argumentation richtet sich gegen die Behauptung absoluter Wahrheit (die Husserl später abänderte und damit eigentlich von der Absolutheit und Unveränderlichkeit abrückte). Die moderne Logik zeichnet sich durch verschiedenste Alternativen aus, es gibt nicht mehr nur die eine Logik. An einem Beispiel demonstriert Loh die Auseinandersetzung zwischen Absolutheitsbehauptung und Pluralität: Die Frage, ob es verschiedene Einsen gebe, die unter dem Oberbegriff Eins zusammengefasst seien. Wenn man das annimmt, dann gibt es Zahlen, die viele Merkmale als Oberbegriff in sich vereinen, sozusagen durch unterschiedlichen Erfahrungsreichtum "dicke" und weniger dicke Zahlen, d.h. Zahlen sind von unserer Auffassung abhängig, psychologische Konzepte und nicht unabänderliche, absolute Wahrheiten, wie Frege behauptete. Loh geht noch weiter: Disjunktionen kennzeichnen in der Logik eine Oder-Funktion, einschließend (a oder auch b) bzw. ausschließend (entweder a oder b). Hier kommt nun der Mensch ins Spiel, der die eine oder andere Alternative erwägt. Es gibt also nicht die eine, absolute "Lösung", sondern eine kontroverse Vielfalt möglicher Lösungen, die es abzuwägen gilt, eine Logik, die das Psychologische ernst nimmt. Logiken sollten nicht auf dem Niveau der Suche nach fixierten Lösungen bleiben, sondern offen bleiben für verschiedene Erwägungen und Geltungsbedingungen. Als Maßstab für diese Abwägung setzt sich Loh subtil mit der klassischen Aussagenlogik auseinander und ihrer Unschärfe (z.B. hinsichtlich der Negation), ihrer Widersprüchlichkeit ( wenn man nicht nur auf die Wahrheitswerte fokussiert, sondern auf die Aussagen selbst), ihren unhinterfragten Grundlagen und führt eine sich eng an der Aussagenlogik orientierende, flexible, disjunktive Logik aus. In einer Anmerkung wird Freges Urteilssauffassung kritisiert: Urteile sind nach Frege Wahlentscheidungen, somit aber - was er offensichtlich nicht wahrnehmen will, psychologisch. Interessant auch de Zitierung von Sigwart (S 74): Wahr und falsch sind Meinungen und implizieren daher ein denkendes Subjekt. Mit einer Logik ohne Moral, die rein an der Syntax, ausschließlich am sprachlichen Ausdruck orientiert ist, will Carnap die Personunabhängigkeit der Logik ermöglichen, aber diese Syntax-Logik führt nur zu einer Selbstentmündigung, meint der Autor. Er plädiert für eine Logik, die Entwicklung zulässt, die keine Lösungsfixierung will, die offenbleibt für Erwägungen von Kontroversen, die schließlich auch eine approximative Suchbewegung im Sinne der Verfeinerung von Intervallen anbietet. Wie fein die Intervalle in einem bestimmten Bereich sein sollen, ist Erwägungssache, somit Subjektives und damit wieder verbesserte Objektivität auch in Bereichen, in denen Quantifizierung nicht möglich ist. Man sucht keinen fixen Maßstab für Entscheidungen und vorangehende Erwägungen, sondern führt eine reflexive Entscheidungssequenz durch Approximationen durch.

Im anschließenden Briefwechsel pointieren die Psychologin und der Philosoph nochmals ihre Positionen; daraus sei hervorgehoben die Vielfalt in der Einheit, die Kaiser-el-Safti an der Tonpsychologie festmacht; sowie eine wichtige Argumentation von Loh( S 128):" Ansatz meiner Erörterung ist die Arbeitshypothese, dass kulturell-geschichtliche Arbeitsprozesse über Problembewältigungen laufen, die Entscheidungen einschließen. Entscheidungen erfordern Umgang mit Alternativen, die sich widersprechen. Deswegen besteht eine Tendenz zur Auswahl. Widerspruchssensibilität setzt Ich-Einheit voraus." Klärung ist nur durch Bezug zur Geschichtlichkeit des Menschen möglich, meint der Autor abschließend, und über die Berücksichtigung der geschichtlichen Stadien der Problembewältigungsfähigkeit.

Ein sehr interessantes Buch, das die Fruchtbarkeit des Dialogs zwischen Philosophie und Psychologie überzeugend demonstriert!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.09.2011
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/die-psychologismus-kontroverse.html
Kostenpflichtig
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