Die dunkle Seite der Seele
Der Autor versteht es meisterhaft, wichtige Sachinformationen mit fesselnden Fallberichten zu verbinden. Das Buch liest sich auf weiten Strecken so spannend wie ein Krimi - aber eben wegen dieser Eindringlichkeit einer Phänomenologie des Bösen muss man es immer wieder weglegen und eine Pause...
Buchtitel: Die dunkle Seite der Seele. Psychologie des Bösen.
Autorinnen: Simon R I
Verlag: Huber
Erschienen: 2011
...einschalten. Zwar faszinieren die Variationen der Destruktivität und die Schattierungen des Dunkels der menschlichen Seele, aber der „Voyeurismus“ unterliegt der Betroffenheit durch die Schilderung, wie Menschen Schaden bewirken, gesteigert durch die anthropologische Prämisse, dass das Böse nicht auf einige Abweicher von der Normalität reduziert werden kann, sondern in einem bestimmten Ausmaß in jedem von uns vorhanden ist. Zum Glück für uns und andere ist dieses Ausmaß bei nicht kriminellen Menschen so dimensioniert, dass die Kontrolle die bösen Impulse in Schach hält - "wir träumen das, was andere tun!". Man kann durch die eindringlichen Beschreibungen von Psychopathen (moderner: Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen) durch den Psychologen Hare oder die Psychiaterin Stout oder durch den Autor selbst die Überzeugung gewinnen, dass Psychopathen "einer anderen Spezies angehören", dass sie menschliche Raubtiere sind, die man in Schach halten muss und die einzige "therapeutische Strategie" darin besteht, sich vor ihnen zu schützen. Aber der Autor beunruhigt durch den Nachweis, dass destruktive Menschen sich nicht allein aus Psychopathen rekrutieren lassen. Menschen wie du und ich, faktisch alle, kennen das Böse nicht nur von außen, sondern auch von innen. Simon vollzieht eine förderliche Operationalisierung des moralischen Begriffs des Bösen, er verwendet an seiner Stelle das Kriterium der Schadenssetzung. Der Text ist flüssig formuliert, die eingestreuten Bibelzitate wirken allerdings "dazu gelötet", die Dekoration durch aus dem Zusammenhang genommene Bibelzitate irritiert.
Die Beschreibung der Menschen, mit denen der Autor in seiner Funktion als Gerichtspsychiater konfrontiert wird, umfasst Psychopathen, Vergewaltiger, Stalker, Amokläufer, Multiple Persönlichkeiten, missbrauchende Helfer, Todessekten und Heilige Krieger sowie Massenmörder.
Manchmal ist der Gerichtspsychiater auch Detektiv, z.B. bei der Klärung, ob es sich um Mord oder Selbstmord handelt. Alle angeführten Themen werden durch zahlreiche Fallbeispiele lebendig vor Augen geführt. Hilfreiche Checklisten unterstützen die Aufklärungsarbeit, z.B. Präventivmaßnahmen am Arbeitsplatz, Richtlinien für Psychotherapeuten zur beide Seiten schützenden Abgrenzung u. v. a. m.
Nach der eindringlichen Phänomenologie des Bösen ist man gespannt auf die "Lösung". Egozentrik und mangelndes Einfühlungsvermögen, Vernachlässigung und Missbrauch, Misshandlungen in der Kindheit, ein widersprüchliches Milieu, neuronale Funktionsstörungen, Funktionseinschränkungen oder Blockierungen der Spiegelneuronen, neuronale Defizite durch Drogenkonsum, Hirnverletzungen, Traumen - es gibt jede Menge von Erklärungsansätzen: Charaktereigenschaften, Milieufaktoren, Gene. Letztlich bleibt die hinreichende Erklärung aber aus. Der Autor muss bekennen und wirkt durch diese Bescheidenheit authentisch, dass die Erklärungsansätze nicht ausreichen, um plausibel zu machen, warum manche Menschen das tun, wovon die anderen nur träumen! (Dieser oftmals in den Text eingewobene Satz ist plakativ, veranschaulicht, dass es mehr um dimensionale als um kategoriale Unterschiede zwischen "Guten" und "Bösen" geht, wirft aber auch einen semantischen Schatten: Wir bewundern Menschen, die konsequent und mutig das um- und durchsetzen, was für andere nur ein Traum bleibt. Diese Bewunderung kann aber unmöglich Sinn der Aussage über destruktive Menschen sein). Da die neurobiologische Forschung über das Böse im Menschen noch weitgehend aussteht, sind die Empfehlungen zur Prävention der Destruktivität um die förderlichen Sozialisationsbedingungen zentriert, wie z.B. auch den Aufbau von Kontrollmechanismen. Der Autor entwirft eine Charakteristik des psychisch gesunden Menschen. Denn die anzupeilende psychische Gesundheit ermöglicht dem Menschen bei allen inneren Zweifeln oder bösen Gedanken die geistige Kontrolle seiner Impulse, der psychisch gesunde Mensch lebt die angeborene dunkle Seite nicht aus. Wichtig ist auch, die eigene dunkle Seite aufzuspüren, um sich selbst und andere besser zu verstehen.
Das Buch vermittelt intensive Eindrücke über die Spielarten des Bösen, z.B. über die Typologie der Vergewaltiger, Typologie der Stalker, Profil der Amokläufer etc. Inwiefern die präventiven oder therapeutischen Maßnahmen bei "normal bösen" Menschen mehr Chancen haben als bei den Psychopathen, die als unzähmbare Raubtiere in Menschengestalt beschrieben werden, bleibt zu hoffen. So bleibt das Buch - notwendigerweise? – letzte Antworten schuldig und ist dennoch auf jeder Seite lesenswert!