Der Realitätenkellner
Der "Realitätenkellner" ist eine Metapher, die Gunther Schmidt, Begründer und Ikone des hypnosystemischen Ansatzes, für die Gestaltung der Beraterrolle geprägt hat. Der Berater offeriert diverse Realitäten (nicht gemeint: Bau- oder Grundstücksobjekte, sondern Wirklichkeitsperspektiven), ...
Buchtitel: Der Realitätenkellner. Hypnosystemische Konzepte in Beratung, Coaching und Supervision.
Autorinnen: Leeb W A, Trenkle B u Weckenmann M F
Verlag: Carl-Auer
Erschienen: 2011
...die für eine bestimmte Fragestellung erkenntnis- und handlungsleitend werden können. Wie ein höflicher Kellner drängt der Berater seinen Menüvorschlag nicht auf, sondern überlässt dem Gast (dem Klienten), die Auswahl. (Der Rezensent findet einen Vergleich mit einer anderen Metapher aufschlussreich. Für den personzentrierten Ansatz gibt es nämlich den "Staubsaugervertreter" als Metapher - Quelle nicht bekannt. Der Vertreter versucht behutsam, das Interesse des Kunden an seinem Produkt zu wecken, indem er einen positiven Zugang wählt. Er sagt nicht: "Ihre Wohnung ist schmutzig, Sie brauchen einen effektiveren Staubsauger!", sondern :" Ich bin überzeugt, Sie schätzen Reinlichkeit, dieses Ziel erreicht man noch besser durch einen effektiven Staubsauer!" Er appelliert an die Fähigkeiten und Stärken des Klienten. Der Realitätenkellner hat diese Beziehungsherstellung schon hinter sich, es geht nicht mehr um Beratung ja oder nein, sondern um die als kompetent respektierte Entscheidung des Klienten für eine bestimmte Form der Interpretation und Kooperation. Der Prozess ist also schon einen Schritt weiter. Auch der Realitätenkellner zeigt Respekt, aber nicht vor einem bestimmten Wert (wie die Reinlichkeit), sondern vor der Autonomie des Klienten).
"Beratung als koevolutionäres Konstruktionsritual für zieldienliche Netzwerkaktivierungen" (Teilüberschrift des Beitrags von Schmidt) klingt (ehr-) furchteinflößend, umso mehr überraschen die Ausführungen durch ihre schlichte Gediegenheit und erfahrungsgeladene Praktikabilität. Die Basisannahmen, die Schmidt einbringt, können für jede Therapie fruchtbar werden - und auch für den Unterricht, wenn es um Inhalte geht, bei denen eine persönliche Stellungnahme maßgeblich ist. Einige Beispiele.
Schmidt schreibt auf Seite 20:"Für die Verarbeitung ist der Empfänger der Botschaft verantwortlich, aber der Sender hat als relevante ´Umwelt` des Empfängers sehr wohl die Verantwortung dafür, welche Umwelt er darstellt, denn das trägt zum Auswahlprozess der Antworten Wichtiges bei.." Das schließt auch ein, dass der Berater aktiv hilfreiche Interventionen einbringen kann (S 21), die Problemmuster und Zusammenhänge sichtbar werden lassen. Wichtig ist es, Lösungsprozesse, die sich der Klient wünscht, zu verstehen und zu unterstützen, denn damit beginnen schon neurobiologische Echos, der Körper, das Gehirn spielen mit, lassen die Vorstellung "wirklich" werden. Dennoch ist auch ein Verstehen der Problemmuster und der darin enthaltenen Informationen wichtig (S 22).
Recht wertvoll ist die Anregung zur Utilisierung (Nutzbarmachung) aller Reaktionen des Klienten, einschließlich seiner Kooperationsverweigerung (das erinnert an das Konzept der pädagogischen Verhaltensmodifikation, in aggressivem Verhalten die positive Komponente anzuerkennen und gezielt aufzugreifen). "Hypnosystemisch ergibt sich die Aufgabe, sich den Kontext auszumalen, in dem diese Beiträge als Kompetenz verstanden werden könnten." (S 23). Statt nach dem "Warum" zu fragen, solle man das "Wofür" erkunden.
Recht erwärmend ist auch die Auffassung, dass aus hypnosystemischer Sicht niemand generell kompetent oder inkompetent ist, "denn jedes Phänomen kann sich als Kompetenz oder Inkompetenz erweisen, je nachdem, ob es sich für bestimmte Ziele effektiv auswirkt und als kontext- und systemverträglich erlebt wird oder nicht". (S 24). Der Berater hat auch die ethische Pflicht, viele neue Ideen anzubieten, denn Problemmuster können durch neue Erkenntnisse verändert werden, weil diese Unterschiedsbildungen (zu bisherigen Sichtweisen) ermöglichen. Dabei soll der Berater aber nicht auf alles die beste Antwort haben, sondern diese dem Klienten überlassen (S 26f). Schmidt tritt auch dafür ein, volle "Produktinformation" zu liefern, d.h. die therapeutischen Hypothesen und Interventionen dem Klienten transparent zu machen. Wertvoll ist dabei auch die Ermunterung des Klienten, auf seine körperlichen Reaktionen zu achten, die verschiedenen "Marker" als Bestätigung für die Stimmigkeit zu nützen. Anstatt seine Lösungsideen dem Klienten missionarisch aufzudrängen, soll der Berater seine Ideen als Angebote ausbreiten und dem Klienten freie Wahl lassen (S 28).
Damit der Berater seine Kompetenzen voll zur Verfügung stellen kann, muss er es sich selbst sehr gut gehen lassen (S 30) und für sich sorgen. Schmidt nennt dies ein ethisches Postulat und eine altruistische Egozentrik.
Zentral ist für Schmidt, dass das Wie entscheidend ist, ob es sich nun um Lösungsvorschläge oder Interventionen des Beraters handelt u. a. m.
Eine Ergänzung aufgrund dieser Aussagen von Schmidt darf daher eingebracht werden. Wenn sich der Kellner vertraulich über die Speisekarte beugt und halb flüsternd von sich gibt: "Die Nudeln würde ich Ihnen heute nicht empfehlen, die sind schon sehr lange im Programm..", so wird dies der ins Vertrauen gezogene Gast sehr schätzen und berücksichtigen. D.h. wenn der Klient eine Lösung anpeilt, die der Berater als suboptimal einschätzt, darf er wohl diese Meinung einbringen und auch die Begründung dafür transparent machen. Das Wie entscheidet.
Das Buch bringt grundlegende Einsichten, z.B. die Notwendigkeit einer entwicklungsförderlichen Veränderungsbereitschaft und des Mutes, Neues auszuprobieren; ganz essentiell auch der Einsatz von Imaginationen in der lösungsorientierten Beratung; klärend die Hinweise auf die Phänomenologie der Hypnose und insbesondere auf entscheidende Kriterien der Hypnose, z.B. die interpersonelle Beziehung und die sich dabei entfaltende Responsivität.
Es gibt viele anregende Impulse für den hypnosystemischen Ansatz (d.h. die Verbindung von hypnotherapeutischem und systemischen Denken): z.B. Beratung in unterschiedlichen Kontexten, Hypnosystemik in der Medizin, hypnosystemische Supervision (mit vielen wichtigen Prinzipien), Konfliktarbeit, hypnosystemisches Coaching, Begleitung in belastenden Situationen oder bei Lebensübergängen. Kreativ und Anschaulich ist der Tanz der "fünf" Schritte beim Coaching dargestellt (Warm werden miteinander, den Kontext klären, Ziele setzen, Ressourcen aufspüren, Komplimente über lösungsorientiertes Verhalten machen). Auch dieser Beitrag ist durchaus auf andere Anlässe übertragbar, z.B. auch auf die Unterrichtsgestaltung!
Es werden auch viele Methoden und ihre Einsatzmöglichkeiten beschrieben, z.B. die Arbeit mit Metaphern, inneren Bildern, der Einsatz von Hausaufgaben usw.
Wer Hypnose mit Manipulation in Verbindung bringt, wird in diesem Buch bekehrt werden: Auf jeder Seite wird ein respektvoller Umgang mit Klienten, ihren Sorgen, Wünschen, Zielen und Lösungsideen sichtbar! Und zugleich eine sokratische Hebammenkunst beim Zutagefördern von Ressourcen!