Das "soziale Unbewusste"
Bei diesem Buch handelt es sich um den literarischen Niederschlag eines Symposiums zum Thema "Das soziale Unbewusste", wobei es um drei Zielsetzungen ging: Den Anschluss an die gesellschaftspolitische Debatte zu finden, die im angelsächsischen Raum schon seit einer Dekade besteht; die von...
Buchtitel: Das "soziale Unbewusste". Gesellschaftskritische Perspektiven der Gruppenanalyse. Österreichisches Jahrbuch für Gruppenanalyse 5.
Autorinnen: Roth W M und Shaked J und Felsberger H
Verlag: facultas wuv
Erschienen: 2011
...Angstabwehr, aber auch von Macht und Einzelinteressen geprägte Produktion von Unbewusstheit bewusst zu machen; zu untersuchen, "wie das soziale Unbewusste die Bedingungen menschlichen Verhaltens prägt und wie es sich ausdrückt in unbewussten Fantasien, Gedanken, Gefühlen im sozialen System" ( S 5). Die sieben Beiträge umspannen einen großen Bogen: Cogoy befasst sich mit ethnozentrischen Umdeutungsprozessen von Massakern; als Beispiel wählt die Autorin die Ermordungen, die in der nordöstlichen Grenzregion Italiens, in Slowenien und Kroatien stattfanden, wobei man die Getöteten in Felsspalten im Karst, die sog. Foibe, warf und so verschwinden ließ. Die nationale, politische Heterogenität von Opfern und Tätern wurde unbewusst homogenisiert und umgedeutet; das in der eigenen Nation vorhandene Unrecht, die nationale Schuld, musste nach außen hin verlagert, projiziert werden und den anderen, den Feinden, die Aura des Unheimlichen verliehen werden. Interessant wäre eine weitere Auseinandersetzung mit der Frage, welche Beziehung das soziale Unbewusste zur Dissonanzreduktion hat (wie sie in den Konsistenztheorien beschrieben wird), wann z.B. die unbewussten Abwehrmechanismen in Aktion treten und wann das Konzept des Unbewussten bei der Herstellung von Konsistenz bzw. Konsonanz, Kongruenz, Balance nicht benötigt wird.
Dalal beschäftigt sich mit der Argumentation für die Abhebung der Begriffe "weiß" und "schwarz" als rassische Zuschreibungen (und deren Genese) von "licht" und "dunkel" als Beschreibungen von Lichtverhältnissen; einleitend verspricht er den überzeugenden Beweis dafür, dass schwarz und weiß nicht Beschreibungen, sondern Zuschreibungen sind (S 32). Dieser Beitrag hat sich eine sehr schwere Aufgabe vorgenommen, nämlich, wie "das Denken und die Welt schwarz und weiß, gut und böse wurden". Der Prozess, wie "gut " und "böse" wirklich in Welt und Denken kamen, ist eine permanente Fragestellung von Theologie, Philosophie, Anthropologie, eine nicht letztlich lösbare - auch hier nicht eingelöste Aufgabe; die Bedeutungszuschreibung von "schwarz" und "weiß" kann vom Autor auch nur skizziert werden. Die versprochene Beweisführung für die Zuschreibungsfunktion von "schwarz" und "weiß" zeichnet daher "nur" anhand der Heiligen Schrift und anhand eines englischen Wörterbuchs selektiv die Verwendung und den Bedeutungsverlauf des Wortes "schwarz" nach. Viele Fragen ergeben sich - über die Intention des Autors hinaus gehend, z.B. das Verhältnis des (physikalisch beschreibenden) Begriffs "dunkel", den der Autor von "schwarz" abzuheben versucht, zu Negativem, Bösen (z.B. Fürsten der Dunkelheit). Oder die Frage des Umgangs von Betroffenen mit der Bezeichnung "Schwarze", die ja keine Farbbeschreibung sein soll, sondern zwischen Rassenbezeichnung und Negativität oszilliert. Oder die interessante Frage, ob es kulturanthropologische und umweltbedingte Unterschiede von Relevanz für die Schwarz-Weiß-Konnotation gibt (gibt es Untersuchungen darüber, ob sich nicht doch eine Korrelation Weiß und Schwarz zu Licht und Dunkel denken lässt und ob sich die anderen Licht-Dunkel-Verhältnisse in nordischen Ländern in Bezug auf die Verbindung von schwarz und weiß anders auswirken als auf die südlichen Länder?). Auch die eingangs eingebrachten Überlegungen zum sozialen Unbewussten sind diskussionsstimulierend, z.B. die Skizzierung des Kant´schen positivistischen Schemas, wonach die Welt der Dinge primär gedacht werde und das Individuum diese Welt wissenschaftlich, objektiv als rationale Kette von Ursachen und Wirkungen erfassen könne und von da zur sozialen Welt gelange. Und in Gegenüberstellung dazu das Elias´sche/ radikal Foulkes´sche Schema (S 34f), das mit der sozialen Welt beginnt und mit der Welt der Dinge endet. Ist diese Linearität nicht veraltet? Spätestens seit Csikszentmihaly und Rochberg-Halton wissen wir um die Wechselwirkung zwischen Dingwelt und Selbst bzw. sozialem Selbst (sog. Kultivation). Die sozial unbewusste Matrix prägt die Produkte der Dingwelt, diese festigen oder schwächen durch ihre Konkretisierung bestimmte Facetten des sozialen Unbewussten.
Mies beschreibt das Konzept des kollektiven Gedächtnisses wie es der Durkheim-Schüler Halbwachs formuliert hat. Er macht deutlich, wie die Gegenwart die Vergangenheit konstruiert und brauchbar, nützlich für die gegenwärtige Gesellschaft macht, und er ergänzt den strukturellen, die Sprache als Zeichensystem betonenden, eher statischen Zugang zum kollektiven Gedächtnis durch das von Bachtin eingebrachte dynamische Voice-Konzept (jeder Text entstammt einem Akt des Sprechens). Anstelle einer kanonisierten Erinnerung tritt die dialogische Bezogenheit, die verschiedene Textvarianten, Lesarten, Urteilskriterien zulässt. Diese könnte man sich sehr wohl als einen bewussten dialogischen Suchprozess des Annäherns, Vergleichens, Abhebens vorstellen. Es wäre daher interessant, noch mehr darüber zu erfahren, in welchem Verhältnis der Autor im Miteinander-Sprechen das Bewusste und das Unbewusste am Werk sieht und wie sich die situative Einigung auf eine gemeinsame Sprecherperspektive ergibt.
Ormay gelingt es in einer sehr klaren, dem Zeitgeist angemessenen Sprache ( z.B. bezeichnet er den Trieb als das "Interface" zwischen Körper und Geist, Seite 76), für eine neue Strukturtheorie zu plädieren. Er führt dafür die zwei Grundtriebe, Selbstbezug und Sozialbezug, ins Treffen (S 76), weiter die Unterscheidung der Biologie zwischen (innengeleitetem) "Zustand" und (außenorientierten) "Inhalt" einerseits und zwischen primärem (nicht reflexivem) Bewusstsein und einem sekundären (reflexiven) Bewusstsein, für letzteres treten besonders die Spiegelneuronen in sozialen Situationen in Aktion. Der Autor entwirft ein modifiziertes psychoanalytisches Strukturmodell, das nicht mehr aus Es, Ich und Über-Ich besteht, sondern aus Es, Ich und Wir. "Das Über-Ich bleibt Teil des Ichs und eine Brücke zum Wir, weil die Eltern uns die Zivilisation als Teil der Gesellschaft näherbringen. Die diktatorische Rolle des Über-Ichs wird auf eine eigentlich soziale Funktion reduziert" (S 78). Ob das im Lichte der Über-Ich-Pathologien ( z.B. einer pathologischen Scham, oder Flucht vor dem Gewissen, wie sie Wurmser beschreibt) so einfach verordnet werden kann? Und, was das Strukturmodell anbelangt: Wäre es nicht sinnvoller, die Struktur zu belassen (Es- Ich-Überich) und das Wir als Qualität und als Integration zu konzipieren. Wenn die soziale Matrix grundlegend ist dann gilt: Alles kann im Licht des Wir betrachtet werden -die Über-Ich-Gesellschaftsnormen, die Überlebensfunktion des Ich, das sich in einer sozialen Realität befindet und daher danach ausrichten muss (siehe auch die sog. altruistischen Gene), das Es im Lichte des Wir, das den Lustgewinn gemeinsam sucht..Das Wir kann schließlich auch als die Integration von Ich, Es und Über-Ich, also als realitätsangemessene, lustpositive und zugleich ethische bzw. normenbewusste Haltung gesehen werden. Dem würde auch mehr entsprechen (statt das Wir als Instanz zu setzen), wie Ormay den Prozess vom Über-Ich zum Wir in sehr warmen , sympathischen Farben beschreibt: " Unser Wir lässt uns verstehen, dass Kooperation und Existenz in der Gesellschaft zum Vorteil aller gereicht....Die Empfindung erfüllter Freude oder Schuld des Wir ist etwas anderes als die der persönlichen Befriedigung oder der Angst vor Strafe des Ichs." (S 83) . Und ebenda:" ..das positive Erleben eines Wir..vermittelt uns, dass wir alle eins sind ..Die ´unterdrückende Liebe` des Über-Ich wird ersetzt durch die befreiende Liebe des Wir." Sehr interessant sind auch die drei Levels, die der Autor einbringt: die archetypische Ebene des kollektiven Unbewussten (z:b. jemand ist eine Frau), die Ebene des sozialen Unbewussten (was bedeutet es in einer bestimmten Gesellschaft, Frau zu sein?) und die Ebene der persönlichen bzw. individuellen Variation.
Pechriggl befasst sich mit den Möglichkeiten und Grenzen gruppenanalytischer Aufdeckung von Heteronomie und Herrschaft und beschäftigt sich mit der z.B. illusionären Verkennung (der Heteronomie bzw. der Chancen zur Autonomie). Sie untermalt ihre theoretischen Ausführungen mit einem Szenenwechsel ins Konkrete, der fast satirische Betrachtungen einbringt, sei es die Messianisierung Jörg Haiders durch seine Geldverteilung an Arme, sei es die humorvolle Beobachtung der Großgruppentreffen und Verehrung des Initiators dieser Treffen, der Kultfigur Josef Shaked, dieser "erfüllt gleich mehrere Funktionen im Sinne unserer kollektiven Identifikation, Übertragung und Projektion.." (S 109). Die Autorin vergisst dabei nicht, die vielen Vorteile und Meriten der Gruppenpsychoanalyse zu erwähnen, z.B.: " Denn während die klassische Einzelanalyse die Frage nach den Herrschaftsmechanismen stets als Ablenkung von den ´eigentlichen` intrapsychischen Konflikten rationalisieren kann, muss die Gruppenpsychoanalyse ihnen auf beiden Ebenen Rechnung tragen, auf intrapsychischer sowie auf intersubjektiver Ebene." (S 112). Pechriggl deutet in ihrem assoziativ aufgebauten Beitrag viele Facetten des Themas an und schließt besinnlich-kritisch mit der Überlegung:" Ich frage mich, last but not least, ob es überhaupt möglich ist, für unsere im Grunde allmachtsfantastisch und autistisch angelegten Psychen, dauerhaft ihren Hang zur Abhängigkeit, zum ungeteilten Herrschen oder Beherrscht-Werden in Schach zu halten und die Mühen verantwortlichen Handelns, Sprechens, Liebens und Erkennens auf sich zu nehmen." (S 113). Der Kampf um Strukturen sei lustvoll aber zugleich permanent nötig.
Scholz befasst sich mit kollektiven Traumata in der kulturellen Matrix. Diese Grundlagenmatrix umfasst das jeweilige Familiensystem, die Grenzziehung zwischen innerhalb und außerhalb der jeweiligen Gruppe, das Geschlechterverhältnis, die Generationenbeziehungen, die Sozial- und Machtstruktur inklusive sozialer Schichtung, sowie die Geschichte der Veränderungen dieser Gegebenheiten. Die Konzeption von Kultur "als kollektivem Bestand an bewussten und vor allem auch unbewussten Bedeutungen als Ergebnis und Bedingung einer Erlebnis- und Erinnerungsgemeinschaft" (S 123) schließt auch die Zeit ein. Gegenüber Freuds ahistorischer Auffassung (das Unbewusste ist zeitlos) weist die Autorin auf die verschiedenen Zeitbegriffe hin: physikalisch, sozial, biologisch, subjektiv. Sie sieht ein Ineinander von gefühlsbestimmtem Zeiterleben und historischen Ereignissen besonders bei kollektiven Traumata. Das kollektive Trauma kann ein massenhaftes Trauma sein, bei dem es viele Betroffene gibt. Wenn es eine Gruppe gibt, die verletzt werden kann, kann sich daraus auch ein Gruppentrauma entwickeln, wenn durch das Ereignis das Selbstverständnis und die Selbstdefinition der Gruppe in Frage gestellt ist. Ein Sonderfall des Gruppentrauma stellt das "chosen trauma" dar, bei dem sich eine Gruppe unbewusst ein oder mehrere traumatische Ereignisse auswählt, für die es aufgrund des weiten Zurückliegens keine Zeugen mehr gibt, sodass neu inszeniert, ritualisiert werden muss, bis die "Narration" der Gruppe identitätsstiftend zur Verfügung steht. Sehr interessant sind auch die Ausführungen der Autorin zu Trauma und Narzissmus, die Erschütterung als narzisstische Wunde und Demütigung (z.B. des Glaubens an die eigene Unverwundbarkeit). Die kollektiven Traumata schaffen Erfahrungen, die in die Grundlagenmatrix eingehen und werden durch das viel weiter als das kommunikative Gedächtnis reichende kulturelle Gedächtnis bewahrt.
Schülein skizziert die "Vaterlose Gesellschaft", die Kampfschrift Mitscherlichs "gegen eine fehlgeleitete Modernisierung...Seine Vorstellungen über die Entwicklung der Arbeit, die Funktion des Staates und die Dynamik der Ökonomie sind vom Bild der Nachkriegsgesellschaft bestimmt. Arbeit ist für ihn vor allem repetitive Teilarbeit, parzelliert und sinnentleert." ( S 147) Schülein setzt sich damit auseinander, was von diesen Gedanken Mitscherlichs aus heutiger Sicht als überholt gelten muss. So ist Modernisierung auch positiv zu sehen, sie "bedeutet daher tatsächlich die Trennung und den Abbau von Funktionen, die in traditionellen Gesellschaften in der Person des Vaters gebündelt und im autoritativen Handeln des Vaters fixiert waren. Sie bedeutet aber auch eine Öffnung von Handlungsspielräumen und eine Aufwertung persönlicher Handlungskompetenz." (150) Der Autor beschreibt dennoch, was man aus Mitscherlichs Analysen lernen kann. Seine Bezeichnungen wie "Verwaltungsgottheit", "Dämmerhaltung der Sattheit", "Momentanpersönlichkeit" zeigen die Wut, die Mitscherlich bei seiner Gesellschaftskritik antreibt, womit unweigerlich Verzerrungen gegeben sind. Schülein plädiert für eine Hybridrealität, die durch das Zusammenspiel von sozialer und psychischer Realität generiert wird, was nicht leicht ist, denn: "Wo die Tiefenpsychologie radikal ins Subjekt hinein abstrahiert, abstrahieren Sozialwissenschaften radikal vom Subjekt. Man kann sich daher prächtig gegenseitig auf die Nerven gehen." (S 155)
Das Buch bietet eine Fülle von Anregungen, Diskussionsanstößen und macht nachhaltig auf die Realität des sozialen Unbewussten aufmerksam. Man geht mit wacherem Blick in die Erledigung der Alltagsverpflichtungen, aber auch reflektierter an den Freizeitkonsum (als Abhängigkeit oder unverwaltete Zeit?) und an die Betrachtung der gesellschaftlichen Ereignisse heran, wenn man dieses Buch gelesen hat!