Burnout und Prävention
Gleich vorweg: Es handelt sich um ein sympathisches Buch. Bezeichnend: Der schnelle Blick über den Titel vermeint, ein Lehrbuch wahrzunehmen, aber bei genauerer Betrachtung enthüllt sich das eigentliche Anliegen der Autorin und der Autoren: Es liegt ein Lesebuch vor, das den Leser einlädt zu...
Buchtitel: Burnout und Prävention. Ein Lesebuch für Ärzte, Pfleger und Therapeuten
Autorinnen: Ratheiser K M, Menschik-Bendele J, Krainz E E u Burger M
Verlag: Springer
Erschienen: 2011
...unterschiedlichen, aber immer auch sehr lehrreichen Fakten, Erlebnissen, Fallberichten, Reflexionen.
Und gleich vorweg eine "Kritik": Warum nur für Ärzte, Pfleger und Therapeuten? Die mitgeteilten Anregungen sind für einen größeren Adressatenkreis, sicherlich für helfende Berufe wertvoll . Dass dafür die Fallgeschichten um einige erweitert werden müssten, in denen andere helfende Professionen, etwa Psychologen, Sozialarbeiter zum Wort kommen, oder dass dafür Querverbindungen von Belastungen im Arztberuf zu solchen in verschiedenen helfenden Berufen hergestellt werden müssten, sollte bei einer weiteren Auflage kein wirkliches Problem darstellen, sondern sogar die Chance bieten, Belastungsgrundmuster in allen helfenden/heilenden Professionen zu beschreiben. Dies als Ergänzung, denn die spezifischen Belastungen aufzuweisen, hat eben eine volle Berechtigung und Faszination. Dies zeigt der erste Beitrag, in diesem geht es um Burnout und Burnout-Bewältigung im Arztberuf. Menschik-Bendele kennzeichnet die Situation der Ärzte u.a. durch Idealisierung des Arztberufs, überhöhte Anforderungen, die Faszination der unverständlichen Fachterminologie, sie stellt aber auch die Ernüchterung, das Ende des Mythos der Götter in Weiß anhand bekannter Fernsehserien plastisch dar. Ein Hinweis, der zugleich originell und danach verblüffend selbstverständlich ist, ist die in einer Dissertation zur Sozialisation zum Arzt beschriebene hohe emotionale Belastung durch die notwendige hohe Intimität der Kontaktaufnahme mit leidenden oder toten Menschen und die durchaus der posttraumatischen Belastungsstörung vergleichbaren Symptome und Irritationen, die dadurch auftreten können. Menschik-Bendele bringt Statistiken, die die hohe Belastung, die hohe Burnout-Gefährdung bis hin zur Suizidalität im Arztberuf belegen. Interessant sind die Überlegungen zum "boreout" (S 12) durch Desinteresse, Langeweile, Unterforderung; weiters die Compassion Fatigue (S 13) durch zu viel emotionalen Kontakt und durch sekundäre Traumatisierung beim Anhören traumatischer Erlebnisse bzw. durch stellvertretende Traumatisierung (wenn der Patient das furchtbare Erlebnisse noch emotional abspaltet). Anregend ist das Uhrenmodell der Burnoutphasen nach Freudenberger, 12 Phasen beginnend vom Zwang, sich zu beweisen, bis zur völligen Erschöpfung (High Noon) (S 16-19 und 27). Der Ausweg liegt für die Autorin in der Inanspruchnahme von Supervision, in einer Primärprophylaxe im Studium (z.B. durch ausreichende Information über die Belastungen des Arztberufs), in einem Perspektivenwechsel von der Pathogenese zur Salutogenese, sei dies nach dem Konzept von Antonovsky, oder dem Ansatz der Positiven Psychologie von Martin Seligman oder dem aus der Balance zwischen Anforderung und Fähigkeit erwachsenden Flow, wie dies Mihaly Csikszentmihalyi beschreibt. Menschik-Bendele lässt auch eine warnende Stimme zu Wort kommen: Die Gefahr des Schattens (der ungelebten Anteile im Jungianischen Verständnis) bei einseitiger Überhöhung des Arztberufs. Der Autorin gelingt es mit ihrem Beitrag im Lesebuch, viel Wissen quasi en passant zu vermitteln.
Michael Burger bringt im zweiten Kapitel des Buches viele Fallgeschichten ein. Er verbindet damit ein Plädoyer für die berufliche Reflexion, sei dies durch Supervision, Coaching oder Balintarbeit. Ganz wichtig auch seine Ausführungen zur Unterscheidung zwischen Funktion (das Was der Aufgaben), Rolle (das Wie der Aufgabenerfüllung) und Position (die Bedeutung, der eine bestimmte Akzentuierung der Aufgabenerfüllung zugemessen wird) (S 53-57). In zahlreichen Fallgeschichten wird vor allem für die Chancen guter Teamarbeit geworben bzw. auf die Wichtigkeit von Anerkennung hingewiesen. Eine ganz besonders wichtige Infragestellung leistet der Autor in Bezug auf die Mutation des Patienten zum Kunden S 86-89). Das wirtschaftsökonomische Denken mag eine Notwendigkeit sein, um das marode Gesundheitssystem von seinen Defiziten zu befreien, aber die vielen negativen Nebenwirkungen müssen bedacht, kontrolliert und mit entsprechenden Gegenmaßnahmen beantwortet werden. Originell auch die Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Medizin und Religion ( S 96-101), sehr pointiert die ironische Substitution von Gott durch den Arzt und die Ausführungen zu den ersten drei Geboten, etwa: Ich bin der Herr, dein Arzt usw. Amüsant und dennoch auch sehr tief gehend: die kritische Betrachtung kollektiver Stressideologien, so als ob zum Heldentum des Arztes auch ein gehöriges Maß von Stress dazu gehören müsste.
In einem sehr detaillierten Beitrag beschreibt Krainz die Leiden an der Organisation. Es geht dabei um eine erweiterte Perspektive, die die Ursache für Burnout nicht nur im personalen Bereich zu suchen sind, sondern in den organisatorischen Bedingungen. So auch der Tenor der Betrachtungen im ersten Abschnitt. Die weiteren Ausführungen beschreiben Organisationen in ihrer Funktionsweise, Gruppenbildung und Steuerung. Es ergibt sich ein vielseitiger Zugang zur Analyse organisationsbedingter Leiden und zur Abhilfe gegenüber dem "hausgemachten Stress". Eine weitere veränderte Sichtweise entspricht dem Paradigmenwechsel von der Individualpsychologie mit ihrem Interesse an der Betroffenheit des Einzelnen in Bezug auf organisatorische Stressoren zu einer Betrachtung der Organisationsdynamik (S 129). Seite um Seite gelingen dem Autor Organisationsmängel reflektierende Aussagen, bei denen man bestätigend nickt "Ja, so ist es wirklich!" Stellvertretend seien angeführt die Probleme der Doppelmitgliedschaft (S 147ff) etwa in hierarchischen Strukturen die Zwischenvorgesetzten mit ihrer Vermittlungsrolle zwischen Oben und Unten und dem Misstrauen von beiden Seiten aufgrund ihrer flexiblen Zuordnung. Manches an den Ausführungen von Krainz würde auch eine Diskussion stimulieren - wäre Platz dafür! Stellvertretend sei genannt die Bewertung des Expertentums in Führungspositionen. Ganzheitsverlust und Bereichsegoismus ortet der Autor und die Gefahr, sich hauptsächlich dem fachlichen Territorium zugehörig zu fühlen, anstatt der organisatorischen Integration werde subsystemischem Denken der Vorschub geleistet. (S 135f). Demgegenüber ist festzustellen, dass ein fachwissenschaftliches Fundament kein Hindernis darstellen muss. Der Autor hat z.B. an sein Psychologiestudium eine Wissenserweiterung in Richtung anwendungsorientiertes, sozialwissenschaftliches Breitband vorgenommen (S 315). Die fachliche Grundierung verhindert daher nicht die anschließende Erweiterung. Der "Fachidiotismus"-Gefährdete muss aber deshalb bei Übernahme einer Leitungsfunktion nicht zum "Allroundlaien" mutieren oder diesem Platz machen. Außerdem ist bei Führungsbesetzungsentscheidungen die Fachkompetenz nur ein Faktor, dazu kommt die Sozialkompetenz, die Feldkompetenz und eine Managementkompetenz. Der Chef als Experte muss daher nicht - wie Krainz es ausführt, gemäß dem Friseurprinzip "bitte der Nächste" sich einer ausschließlich bilateralen Kommunikation und eines "divide et impera" bedienen (S 188).
Sehr interessant sind die Ausführungen von Krainz zur reflexiven Steuerung, einem Wechsel zwischen einer operativen Ebene und einer betrachtenden Ebene (S 197- 200).
War der Blick im vorangegangenen Kapitel sehr auf das Außen gelenkt, wird nun das Selbst fokussiert - und das in dichterischer Ausdruckskraft, beklemmend z.B. die Geschichte einer erzwungenen Pause (S 203 - 207). Der Autor gibt viele erfahrungsgestützte Tipps, z.B. die Anamnese der Grundbedürfnisse (etwa im Einbau von Zeitinseln). Das Kapitel weist eine Fülle von Fallgeschichten auf, die allesamt eine Botschaft zu vermitteln haben; dazwischen aber immer auch zahlreiche Anregungen wie auf sich selbst achten, Kontakt zu seinem Körper herstellen, sich vertrauend fallen lassen u. v. a. m. (240ff). Das Kapitel bietet über weite Strecken keine stringente , eindimensionale Abhandlung von Selbstwerdung, sondern assoziativ verknüpfte Gedanken, Bilder , Impulse, über die man auch nicht "diagonal" hinweg lesen kann, sondern immer verweilen muss, um sie einwirken zu lassen, ob es sich nun um eine Anamnese der Schatten (269) oder das Unbewusste als Partner (S 287) oder eine Evidenz des Irrationalen (S 295) handelt..
Ein erstaunlich mutiges, lehrreiches, aber nicht belehrendes, vielfältiges Buch, das man mit viel persönlichem Gewinn liest!