Bilder, die Geschichte schrieben

Mihály Csíkszentmihályi, der Psychologe, der das flow-Erlebnis beschrieb, war auch mitverantwortlich für den Begriff der Kultivation in seiner spezifischen Bedeutung: Die wechselseitige Beziehung verbessert, verfeinert die Dinge oder den Umgang mit ihnen. Die Dinge sind aber nicht nur Abbild, ...

Buchtitel: Bilder, die Geschichte schrieben. 1900 bis heute.
Autorinnen: Paul G
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2011

...Symbolisierung des Menschen, sondern wirken selbst wieder zurück. Die Uhr, die Schreibmaschine, der Computer haben die Welt verändert. Bilder sind hervorragend geeignet, diese Wechselbeziehung zu demonstrieren. Sie sind Produkte, die aus der Hand des Menschen hervor gehen, Artefakte. Bilder können aber komplexe Kraft entfalten. "Bilder sind in der Lage, gestaltend in den historischen Prozess einzugreifen, Geschichte zu machen; sodann besitzen sie die Fähigkeit, den Prozess der Erinnerung an eben diese Geschichte zu formen, d.h. Geschichte im wörtlichen Sinn zu schreiben, und schließlich verfügen sie über eine eigene Geschichte, eine Bildgeschichte", schreibt der Herausgeber (S 7). Und er führt weiter aus, dass bereits zu Beginn der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts vom Ende der Gutenberg-Galaxis, d.h. der von Schriftkultur geprägten Zeit, und von der Wende zum optischen Zeitalter die Rede war. Dieser pictoral turn bringt eine Flut von Bildern hervor, aus denen einzelne mit Ikonenstatus herausragen, weil sie eine besondere Erinnerungskraft besitzen, "gleichsam moderne Heiligenbilder mit Wirkungsgarantie" (S 8). Diese Ikonen sind "in der Regel mit bedeutenden Persönlichkeiten und/oder dramatischen Ereignissen der Geschichte wie Wendepunkten, Umbrüchen und Katastrophen verknüpft. In ihnen verdichten sich Ängste, Hoffnungen, Leidenschaften zu Symbolen menschlichen Seins" (S 8). Diese Bilder werden zu Symbolen, die den einzelnen Anlass transzendieren, ebenso aber auch die einzelne Person, sondern zu" Kristallisationspunkten kollektiver Identität und Erinnerung mit einem hohen Wiedererkennungswert aufsteigen" (ebd.). Das sind etwa Marylin Monroe als Sex-Ikone, die Coca-Cola-Flasche als Werbeikone, der VW-Käfer als Design-Ikone u.v.a.m. Es gibt, so der Herausgeber, politische Ikonen (z.B. Che Guevara), Ereignisikonen (z.B. Zerstörung der Twintowers), kulturelle Ikonen (Zeichnung der DNA) usw. Die Möglichkeiten von Fotografie und Film sowie die massenhafte, synchrone Herstellung und Verbreitung genügen nicht zum Erreichen eines Kultstatus, es muss zu einer vielfachen Nutzung im Leben kommen, zu Transformationen, die das Bild aus seinem ursprünglichen Kontext herauslösen und damit die multiple Bildverwendung erleichtern. Ikonen "springen ins Auge" durch besondere formale Gestaltungen und dadurch, dass sie starke Triebkräfte, Affekte im Menschen ansprechen, sie schreiben und machen darüber hinaus Geschichte, weil sie selbst eine Deutung nahelegen und weil sie Fakten schaffen, was -hier zitiert der Herausgeber Bredekamp - heute ebenso wirksam sein kann wie der militärische Waffengebrauch oder die Lenkung von Geldströmen. Paul weist abschließend darauf hin, dass die einzelnen Beiträge sich weitgehend mit vier Ebenen auseinandersetzen: Bedingungsrealität (Kontextfaktoren), Bezugsrealität ( visualisierte historische Problematik), Bildrealität (Eigenschaften des Bildes) und Wirkungsrealität (synchrone und diachrone Rezeption und Kanonisierung). Es sind dies die vier Betrachtungsweisen, die Helmut Korte für die Filmanalyse gebrauchte.

Die fast 30 Autorinnen und Autoren des Buches sind Sprachwissenschafter, Literaturwissenschafter, Kommunikations- und Medienwissenschafter, Sozial- und Wirtschaftswissenschafter, Historiker und Kunsthistoriker. Die Beiträge befassen sich mit Ereignisikonen wie: Der Untergang der Titanic. Modellkatastrophe und Medienmythos; Der Mond ist ein Ami. Bilder der Mondlandung; Der Fall der Mauer. Bilder von Freiheit und/oder Einheit. Tsunami. Bilder einer Katastrophe.

Zahlreiche Beiträge beschreiben Personenikonen wie z.B. Der Mann mit dem Adlerhelm. Wilhelm II - Medienstar um 1900; Mao. Das Porträt als Reliquie und Pop-Ikone; Johannes Paul II. Der Schmerzensmann.

Weitere Beiträge befassen sich mit politischen Ikonen wie z.B. Reichsparteitag. Der Massenkörper als visuelles Versprechen der "Volksgemeinschaft", The Falling Soldier. Eine politische Ikone des 20.Jahrhunderts;

Beiträge mit multipler Einordnungsmöglichkeit sind z.B. Aufmerksamkeitsterror 2001. 9/11 und seine Inszenierung als Medienereignis; Das Mädchen Kim Phuc. Eine Ikone des Vietnamkriegs; Che. Eine globale Protestikone des 20.Jahrhunderts.

Weiter gibt es Analysen von Werbeikonen, Sexikonen, Wissenschaftsikonen u. v. a. m.

Man darf das Buch als besonders geglückte Komposition von Bild und Text, spannender Information und wissenschaftlicher Analyse bezeichnen. Wo immer man das Buch aufschlägt, erhält man Einblicke in mediale, kommunikative, kunst - historische und psychologisch aufschlussreiche Wechselwirkungen zwischen Bild und Lebensrealität. Z.B. die Ambivalenz der allseitigen Medienpräsenz Kaiser Wilhelms II, die seine Magie und seinen Anspruch als Vorbild, aber auch seine Entzauberung als schwacher Politiker betraf (S 23ff). Oder z.B. der Untergang der Titanic, der in einer Zeit großer Umbrüche, Katastrophen zu einem Orientierungsmythos wurde (S 33). Oder das Zusammenspiel von Dekontextulisierung und Rahmung (S 110f), demonstriert an dem "Jungen aus dem Warschauer Getto", der durch Bildberabeitungen universal wird als Sinnbild des Leides, das im Rahmen von Antiimperialismus, Aufklärung, Feminismus unterschiedliche Pointierungen erwirkt. (S 111-113). Oder das Torhaus Ausschwitz-Birkenau, das zeigt und ausblendet und gerade dadurch wieder zeigt: Das Bild zeigt das Vernichtungslager von der Eingangsseite, nirgends sind Menschen zu sehen, aber gerade diese auf der Linie, dass nicht Menschen, sondern Strukturen vernichtend waren, sich bewegende Ausblendung führt zu einer Diskussion über den menschlichen Faktor.(126ff). Oder die Zeichnung der Doppelhelix, die heute so rezipiert wird, als wäre es kein Modell, sondern 1:1 Realität, die aber für diese Popularität mehrere Jahrzehnte benötigte. Oder die Unschärfe der Fotos und Filme vom Tode Kennedys als Symbol der vielen Fragen, die offen geblieben sind.

Es ist ein Buch, das man immer gern zur Hand nimmt, das aber auch eine andere Nachhaltigkeit zusätzlich besitzt: Die bewusst gemachte Beeinflussbarkeit durch Bilder, sodass der Leser sich nach der Lektüre auch Gedanken machen wird über "Bilder, die meine Geschichte schrieben und noch immer schreiben!"

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
09.10.2011
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/bilder-die-geschichte-schrieben.html
Kostenpflichtig
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