Autorität, Autonomie und Bindung
Die Ankerfunktion bei elterlicher und professioneller Präsenz
In diesem Werk geht es um eine neue Auffassung von Autorität und Bindung und um Strategien der Erziehung, die mit Gewaltlosigkeit kompatibel ist. Es ist eine wahre Fundgrube an brauchbaren, direkt umsetzbaren Empfehlungen.
Buchtitel: Autorität, Autonomie und Bindung. Die Ankerfunktion bei elterlicher und professioneller Präsenz.
AutorInnen: Grabbe M, Borke J u Tsingotis (Hg.)
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2013
Zum Inhalt
Das Buch hat fünf Teile: Teil 1 erläutert das Konzept des gewaltlosen Widerstands und der Ankerfunktion der Eltern. Teil 2 weist nach, dass es unterschiedliche Ausprägungen von Autonomie und Verbundenheit gibt, wobei es auch zu einer Auseinandersetzung mit menschlichen Grundbedürfnissen und kulturellen Werten kommt. Teil 3 demonstriert, wie man die oft hinter der Maske der Aggressivität verborgenen Bedürfnisse des Kindes erkennen, ansprechen und berücksichtigen kann. Die Reflexion der Geschwisterbeziehung und moderner Konzepte der Elternpräsenz liefert viele Anregungen. Teil 4 thematisiert verschiedene Situationen : Z.B. die Verankerung nach einem Psychotrauma , ein weiteres Beispiel die Stärkung der elterlichen Ankerfuntion rund um die Geburt.
Der abschließende 5. Teil bringt verschiedene Einblicke in die Praxis. Das Buch hat viel Inhalt und ist gut verständlich geschrieben. Einige Anmerkungen sollen neugierig machen auf die Lektüre, es besteht nicht der Anspruch, die gesamte Reichhaltigkeit des Werks zu präsentieren.
Der Sozialwissenschafter Joseph Huber sieht in der Kulturdynamik des Westens eine dauernde Abfolge von zwei Stilen: Sinusartig schwankt die Kultur von einem formbetonten, strukturierten, geordneten Pro-Modus zu einem formauflösenden, locker-gelassenen, prozesshaften Ana-Modus.
Der Ansatz des vorliegenden Buches ist eindeutig pro-modal: Von stabilen, sicheren Rahmengebungen ist die Rede, von Struktur, Autorität, elterlicher Verankerung, wachsamer Sorge, Präsenz, Verantwortung, aktivem Schutz, Legitimation durch eine unterstützende Gruppe, Selbstkontrolle der Eltern, Beharrlichkeit und verzögerter, d.h. nicht-impulsiver Reaktion.
Auf Seite 29ff wird die Selbstkontrolle der Eltern als vom Verhalten des Kindes unabhängige Position beschrieben. Verständlicher wäre hier die Einführung des Rollenbegriffs (Rolle als Bündel von Erwartungen an den Rollenträger) und der Hinweis auf die individuelle Auslegung und Gestaltung der Rolle. Die persönliche Definition der Elternrolle (z.B. Wie sehe ich meine Vaterrolle, was gehört für mich zum Mutter -Sein?) ist selbstbestimmt, autonom. Die Ankerfunktion der Eltern stützt sich auf Struktur, Präsenz, Vernetzung und Selbstkontrolle verbunden mit Ausdauer (Seite 35). Dadurch entsteht ein Gefühl von Sicherheit, der stabile Rahmen erfordert keine betonte Kontrolle, die Fürsorge der Eltern geht in eine Selbstsorge des Kindes über (ebd.). Sehr erkenntnisreich und anregend sind die Ausführungen zur Konstruktion von Feindbildern. Der Kontrahent ist dumm, krank oder böse (Seite 43), d.h. er wird es oft erst durch die Erzählung, die ihm diese Eigenschaften zuschreibt. Die Dämonisierung des Feindes (Seite 45ff) wird initiiert durch eine vermeintliche Ungerechtigkeit des Anderen. Durch eine voreingenommene Wahrnehmung verdichtet sich der negative Eindruck (Seite 46ff), hier könnte man gut das Konzept der Kausalattribuierung einbringen: Sich selbst wird nur ein extern verursachtes, situatives Verhalten zugeschrieben, dem anderen aber eine innerlich gegebene konstante Aggression. Totales Denken, Verlust an Differenzierung, essenzielle Asymmetrie (nur der andere ist schlecht etc.) (Seite 50f), das Streben nach Macht durch Kontrolle (indem man den Anderen bekehrt, unterwirft, vertreibt oder eliminiert) sind die Bausteine der Feindbildkonstruktion. Als Gegenmittel gegen Eskalationen kann eine tragische Sicht (d.h. eine Skepsis gegenüber großen Lösungen und ein Suchen nach kleinen Schritten) angesehen werden. (Seite 54). Die „tragische“ Sicht wohl, weil sie von der Erkenntnis getragen ist, dass wir nur teilweise das erreichen können, was wir uns wünschen würden. Deeskalation wird möglich durch eine „innere Moderation“, die z.B. über den Entschluss wacht, nicht mehr zu eskalieren, und durch Gesten der Wertschätzung , an der man auch gegen die feindselige Negativdeutung des Anderen , beharrlich festhält (Seite 59).
Vom Hier zu einem gewünschten Dort zu navigieren erfordert keine „Helicopter parents“, die dauernd schützend und kontrollierend über den Kindern schweben (Seite 69). Wichtig ist die Klärung und wechselseitige Übersetzung von Werten. Bei den Beispielen auf Seite 75 sollte angeführt werden, dass die oft sehr langen und mühsamen Formulierungen nicht in einem Stück aufgesagt werden dürfen, sonst überfordert man mit dieser Werterklärungslitanei den kindlichen oder jugendlichen Zuhörer. Auch die Texte auf Seite 81, obere Hälfte, sind in einem Durchgang nur schwer rezipierbar.
Dem Rezensenten ist nicht klar, welchen Erkenntnisgewinn die Abbildung 1 auf Seite 137 (Bezugsrahmen für unterschiedliche kulturelle Muster) bringen soll: Ein zunehmend dunkler schattiertes Parallelogramm weist an den Enden einer Diagonale die Bezeichnung autonomieorientiert bzw. verbundenheitsorientiert auf. Daraus kann man folgern, dass es viele Mischungspositionen der beiden Grundbedürfnisse 1 gibt, worauf auch ein Beitrag des Buches hinweist. Es gibt recht interessante Anmerkungen, wie z.B. dass eine nondirektive Beratungsgestaltung von Klienten mit verbundenheitsorientiertem Hintergrund leicht als Inkompetenz missverstanden werden kann (Seite 143), hier bedarf es manchmal direkterer Anweisungen auf der Ebene erster Ordnung.
Auf Seite 133 befindet sich als kleiner „Schönheitsfehler“ ein Bildbruch, wenn von einer „maßgeschneiderten Kulturbrücke" die Rede ist. Um im Bild zu bleiben, könnte man eher reden von einer am Gelände orientierten Kulturbrücke. Deren Bausteine ergeben sich durch „zwei Steinbrüche“, einerseits dem der interkulturellen Kompetenz und andererseits aus dem Konzept der neuen Autorität. Für letztere ist der Begriff der Würde (des Kindes) ein Schlüssel: Es geht um den Respekt in der interkulturellen Kommunikation (Seite 159).
Es würde den gegebenen Rahmen bei weitem sprengen, würde man alle Anregungen und wertvollen Impulse dieses Buches erwähnen wollen. Stellvertretend sei noch angeführt, wie versucht wird, das Kind mehr in das Elterncoaching einzubinden: Es werden bedürfnisorientierte Fragesequenzen eingebaut, die die Einfühlung der Eltern in die seelische Verfassung ihres Kindes anregen sollen, wobei auch Lösungsszenarien imaginiert werden (Seite 180). Recht spannend auch der Feeling-Seen-Ansatz, bei dem man davon ausgeht, dass in der Mimik und Gestik des Kindes sich seine Bedürfnisse abbilden, für die man dann das passende Wort sucht, um sie bewusst zu machen (Kenner werden hier an den erlebnisorientierten Ansatz von Gendlin denken). Als Gegenstück kann angesehen werden, dass man auch die Kinder zu Imaginationen anregen kann. Kinder erfinden oft aus sich heraus ideale Elternfiguren (192).
Von den schon eingangs erwähnten wertvollen Reflexionen zur Geschwisterbeziehung sei nur darauf hingewiesen, dass manche Erkenntnisse ein Aha-Erlebnis erzeugen, z.B. dass der elterliche Mythos von der Gleichbehandlung der Kinder bzw. vom gleichen Liebhaben am Wunsch des Kindes nach Unterschieden und individueller Zuwendung vorbei geht (Seite 204).
Vieles wäre noch erwähnenswert, aber es genügt der Hinweis, dass dieses Buch eine wahre Fundgrube an brauchbaren, direkt umsetzbaren Empfehlungen darstellt. Man merkt seine Tiefenwirkung unmittelbar nach der Lektüre, wenn eine schwierige Kommunikationssituation auftaucht und einem sofort hilfreiche Konzepte aus dem Buch einfallen!