ADHS - Kritische Aufmerksamkeit und therapeutische Kunst
Der engagierte Arzt für Kinderheilkunde und für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie versammelt als Herausgeber eine Schar von Expertinnen und Experten um das Thema der "Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitäts-Störung".
Buchtitel: ADHS - Kritische Aufmerksamkeit und therapeutische Kunst
Autorinnen: Bonney H
Verlag: Heidelberg: Carl-Auer
Erschienen: 2008
So mancher, der zu diesem Buch greift, mag anfänglich denken: Das 1001. ADHS-Buch! Aber dem ist nicht so. Die unter vier große Kapitel (nämlich: Behandlungskonzepte und Arzneien, Neurobiologie, Pädagogik, Psychotherapie)subsumierten Autorinnen und Autoren verstehen es, wissenschaftlich und dennoch spannend zu argumentieren und auch den nicht direkt aus der Zunft stammenden Leser so anzusprechen, dass er nicht in einer Flut fremder Fachtermini ertrinkt- und man erfährt sehr viel Neues! Der Stil der einzelnen Beiträge des Buches ist insgesamt trotz hoher Verpflichtung zur Sachlichkeit sehr verständlich gehalten. Bei einer einzigen Stelle im Buch (S 130) hat der Rezensent das unbändige Verlangen gespürt, den Text zu verdeutschen: " Die Einzelarbeit mach sich das Novelty-seeking-Verhalten zu Nutze und trainiert die Impulskontrolle mittels einer spielerischen Non(sic!)-go- Aufgabenstellung, die das Delay-Verhalten belohnt.."
Einprägsam ist die unscheinbare Abbildung 1 auf Seite 8. Sie enthält die brisante Erkenntnis, dass nach drei Jahren gleichartige Verbesserungen der ADHS-Problematik festgestellt werden können, egal ob die Behandlung medikamentös, psychotherapeutisch oder kombiniert oder als community care (als gemeinwesenorientierte Soziale Arbeit) erfolgte - womit das geschlossen naturwissenschaftliche Ursachenverständnis der ADHS Verbindungs-Türen und -Fenster zu anderen Einflüssen geöffnet hat. Der Zauberschlüssel ist die Neuroplastizität, d.h. die Programmierbarkeit des Gehirns durch Lernerfahrungen, sei dies durch Änderungen der Nervenzellverschaltungen, sei dies die Aktivierung von Stoffwechselprozessen in den Synapsen u. v. a. m.( S 20). Brandau weist darauf hin, dass ADHS nicht unbedingt mit Leistungseinbußen einher gehen muss. Der Erfinder Edison und das Musikgenie Mozart wiesen beide die Symptome der ADHS auf, wobei diese als Epiphänomen von Langeweile und Unterforderung auftraten, also eher auf einen Motivationsmangel zurückführbar waren. (S 30) Die Diskrepanz zwischen Temperament und Umgebung kann leicht als Störung des Sozialverhaltens bzw. als ADHS missdeutet werden, hier wären biologische Marker hilfreich.( S 30) Es gibt aber keine eindeutige neurobiologische oder neurochemische Ursache für die ADHS ( S 32). Deshalb verweilt die von Brandau vorgeschlagene Definition auch im deskriptiven Bereich: "Der als ADHS bezeichnete Verhaltenskomplex kann als biopsychosoziale Auffälligkeit in der Interaktion mit sozialen Systemen betrachtet werden, die Fähigkeiten der Selbststeuerung, Geduld und Ausdauer erwarten." (S 31) Um ADHS wirklich diagnostizieren zu können, bedarf es der Ausschließung von zahlreichen organischen Störungen (z.B. Schilddrüsenerkrankungen), von funktionellen Störungen (wie z.B. Anpassungsstörungen) und Störungen in Familie und Umwelt (wie z.B. altersspezifische Überaktivität), die alle auch Auswirkungen auf Aufmerksamkeitssteuerung und Impulskontrolle haben können, wie eine Tabelle des Herausgebers auf Seite 31 beeindruckend darlegt. Bemerkenswert ist die Aussage von Brandau, dass die Wandlung zu "Sitzmenschen" und ihre Einforderung vor allem Buben zwischen 6 und 12 Jahren auf dem Höhepunkt ihrer motorischen Funktionslust besonders hart trifft. Dem entspricht auch die Kulmination der ADHS-Diagnosen in diesem Altersbereich. In seiner Auseinandersetzung mit Forschungsansätzen und Denkmodellen konstatiert Lüpke eine Aufmerksamkeitsstörung hinsichtlich der Grundlagen von Wissenschaft. Er plädiert für weniger Datengläubigkeit und für mehr klärende Fragen, Diskussionen, Korrekturen. ( S 51). Weitere Kapitel befassen sich mit der Versorgungsforschung im Bereich ADHS-Kinder, mit der Wirkung von Psychostimulanzien bei Kindern und Jugendlichen mit ADS-Symptomatik, bzw. mit ihrer morphogenen Wirkung auf die Gehirnentwicklung bei ADHS-Kindern. Die Kernbotschaft: Vorsicht bei der Verabreichung von Ritalin, dieses kann unter bestimmten Bedingungen zu einer starken Beeinträchtigung der Gehirnentwicklung führen. Faszinierend ist von Hüther ( S 88f) und von Bonney ( S 127 bis 131) dargestellt das Ineinandergreifen von neurobiologischen, neurochemischen und psychoszialen bzw. systemischen Störungen bzw. von Anlage- und Umweltfaktoren.
Gebauer bringt das Bindungskonzept in Verbindung mit der Unruhe hyperaktiver Kinder. Ihr unsicher vermeidender oder unsicher-ambivalenter Bindungsstil macht sie zusätzlich unkonzentriert. (137f) Schutzfaktoren (wie Halt gebende Personen im erweiterten familiären Einflussbereich) mindern die negativen Auswirkungen problematischer Bindung. Ganz besonders wichtig ist aber das Spiel und die Erfahrungen, die man im Spiel macht, für das Gebauer ein überzeugendes Plädoyer hält. Spiel ist die Quelle von Selbstwirksamkeitserfahrungen, von frühen Formen der Konfliktbewältigung und Problemlösung, es motiviert zur Aufmerksamkeit und Konzentration bzw. Ausdauer und ermöglicht basale Beziehungserfahrungen. (S 147) Wertvoll auch die Anwendung des Konzepts der Salutogenese (Gesundwerdung) von Antonovsky. Der salutogenetische Blick geht davon aus, dass jegliches Verhalten eine bestimmte Bedeutung hat, dass man lernen kann, diese Bedeutung zu verstehen und kompetent damit umzugehen. Rühling bringt eine bemerkenswerte Übersicht von 16 Varianten, wie Lernerfahrungen und Sozialisationskonstellationen Probleme mit der Aufmerksamkeit und Impulskontrolle bewirken können - ohne dass eine genetische Determination vorliegen muss. (S 170f). Hopf bringt eine interessante Überlegung ein, warum aus psychosoziogenetischen Bedingungen Buben eher zur Bewegungsunruhe bzw. deren Expression neigen als Mädchen. In einem weiteren Kapitel wird eine Lernsoftware und ihre erste experimentelle Überprüfung beschrieben, sie trainiert Aufmerksamkeit und Impulskontrolle. Ein abschließendes Kapitel bringt viele Anregungen dafür, wie in Zukunft mit der ADHS-Problematik umgegangen werden sollte.
Das Buch enthält viel mehr wertvolle Bausteine zum Verständnis und zur Bewältigung der ADHS, als hier in den beispielhaften Schlaglichtern besprochen werden konnte. Es ist ein mutiges Buch, ein innovatives Buch und ein Buch, dessen theoretische Auseinandersetzung entscheidende Auswirkungen auf die Praxis haben wird! Es ist sicher eines der informativsten Werke zum Thema ADHS!