Österreich, Land der Bildungsaufsteiger
„Bildung wird in Österreich vererbt.“ Diese Behauptung findet man in einer Vielzahl von Artikeln und TV-Diskussionen über das österreichische Bildungssystem wieder, kaum eine wissenschaftliche Arbeit kommt ohne sie aus. Aber hält dieses vernichtende Urteil einer kritischen Prüfung stand?
Alle namhaften Studien, die eine geringe Bildungsmobilität nachweisen, beruhen auf seriösen Daten. Einzig deren Interpretation wirft eine Reihe von Fragen auf. In dieser Arbeit werden vielfach dieselben statistischen Daten ausgewertet, nur die Ergebnisse unterscheiden sich teilweise fundamental. Sie weisen nämlich eine sehr hohe Aufwärtsmobilität quer durch fast alle Bildungsschichten nach, eine relativ ausgewogene soziale Zusammensetzung der Studienanfänger sowie eine gute Repräsentation von Studierenden aus bildungsfernen Schichten an den österreichischen Universitäten und Fachhochschulen.
Wie das möglich ist? Ganz einfach: Indem die Perspektive gewechselt wird. Wenn man die Frage stellt, wie viele Kinder aus einem akademischen Haushalt selbst einen akademischen Abschluss erreicht haben, bekommt man ein ganz anderes Bild, als wenn die Frage umgekehrt gestellt wird: Wie viele Kinder mit einem akademischen Abschluss kommen aus einem akademisch gebildeten Elternhaus? In dieser Arbeit steht Frage Nummer zwei im Mittelpunkt; die Bildungsmobilität wird also aus der Perspektive der Kindergeneration beurteilt.
Ein weiterer Perspektivenwechsel ergibt sich, indem die Berechnung der Auf- und Abstiegsmobilität aufgrund von Kriterien durchgeführt wird, die der Vielfalt des österreichischen Bildungssystems angemessen sind. Denn für den internationalen Vergleich wird die Anzahl der Bildungsstufen von fünf auf drei reduziert. Haben die Eltern einen Handelsschulabschluss und die Tochter Matura, gilt das nicht als Bildungsaufstieg. Nach österreichischen Maßstäben ist das aber zweifellos als Aufstieg zu werten.
Die Ergebnisse sind verblüffend. 45 Prozent der 35- bis 44-Jährigen haben einen höheren Bildungsabschluss als beide Eltern. 42 Prozent erreichen denselben Ausbildungsgrad, 13 Prozent steigen bildungstechnisch gesehen ab.
Die Analyse der Schulbildung der Eltern von Studienanfängern bestätigt diesen Befund:
Weniger als ein Viertel der Studienanfänger an Universitäten und Fachhochschulen kommt aus Akademikerhaushalten (mindestens ein Elternteil mit Hochschulabschluss). Etwas mehr als ein Drittel der Studienanfänger kommt aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil Matura hat. Und bei 42 Prozent der Studienanfänger haben weder Vater noch Mutter einen höheren Schulabschluss. Also keine Matura.
Auch die Aussage, Österreich sei bezüglich der Bildungsmobilität viel schlechter als vergleichbare Länder, entpuppt sich als Vorurteil:
Österreich kann nicht nur gut mithalten, hinsichtlich der Aufwärtsmobilität unter Studierenden liegt unser Land sogar im Spitzenfeld der europäischen Staaten. Der internationale Vergleich weist für Österreich einen Anteil von 67 Prozent an Studierenden aus, bei denen kein Elternteil einen akademischen Abschluss hat. Damit liegt Österreich an vierter Stelle im europäischen Vergleich.
Dieses positive Bild ist – genau besehen – auch nicht besonders überraschend: Viele Untersuchungen weisen darauf hin, dass Österreich ein sehr leistungsfähiges System der Berufsbildung aufweist, dem es gelingt, die Anzahl der Jugendlichen ohne Ausbildung („early school leavers“) vergleichsweise gering zu halten. Das gut ausgebaute System an berufsbildenden mittleren und höheren Schulen ermöglicht vor allem Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten einen Weg zur höheren Bildung. Und auch der offene Zugang zu Fachhochschulen und Universitäten sowie das gut ausgebaute Stipendiensystem leisten einen hohen Beitrag zur sozialen Mobilität in der österreichischen Gesellschaft.
Das Ziel dieser Studie besteht einerseits darin, die immer wieder vorgebrachte Behauptung der geringen Bildungsmobilität in Österreich eingehend zu überprüfen. Bei aller Kritik, die sich an vielen Aspekten des Schul- und Ausbildungssystems festmachen lässt, mangelnde Mobilität und Durchlässigkeit im Gesamten gehören nicht zu den kritikwürdigen Punkten.
Andererseits wird die unterstellte hohe „Bildungsvererbung“ oftmals als pauschale Begründungsfolie für die unterschiedlichsten bildungspolitischen Forderungen herangezogen: Mehr Geld für Schulen, Universitäten oder insgesamt für „Bildung“, gegen Studiengebühren, gegen Studieneingangsphasen, für die gemeinsame Schule etc.; der Fantasie scheinen hier keine Grenzen gesetzt. Das Ende des Mythos von der geringen Bildungsmobilität sollte die politischen Akteure dazu zwingen, ihre Forderungen in Zukunft konkret und sachlich zu begründen, anstatt sich auf falsche Interpretationen der Bildungsmobilität zu stützen. Der bildungspolitische Diskurs in Österreich würde dadurch an Qualität gewinnen.
(Quelle: Agenda Austria)