Wolfgang Sitte (Salzburg)

ENTSTEHUNG UND KONZEPT DES UNTERRICHTSFACHES GEOGRAPHIE UND WIRTSCHAFTSKUNDE (GW)[1]

 

Wirtschaft und Gesellschaft als Elemente der Allgemeinbildung

Die Schulländerkunde

Versuche, wirtschaftskundliche Inhalte in das Fach einzubauen

GW bei den Schulversuchen der siebziger Jahre

Der Paradigmenwechsel des Faches in den achtziger Jahren

Das neue fachdidaktische Konzept von Geographie und Wirtschaftskunde

Literatur

 

1.Wirtschaft und Gesellschaft als Elemente der Allgemeinbildung

1962 einigten sich die im Parlament dominierenden beiden großen Parteien SPÖ und ÖVP sowie die hinter ihnen stehenden Interessenverbände (Arbeiterkammer, Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung) auf eine Neuorganisation des österreichischen Schulwesens. Dabei übertrugen sie der Schule die Aufgabe zum Nutzen individueller und sozialer Lebensbewältigung, die Bereiche Wirtschaft und Gesellschaft in das Konzept der Allgemeinbildung miteinzubeziehen. Initiatoren dieser neuen Erziehungsaufgabe waren neben einigen wenigen Schulmännern vor allem Wirtschaftskreise. Einsichtige hatten nämlich erkannt, dass in dem Maße wie Demokratisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft zunehmen, es immer notwendiger wird, alle Heranwachsenden bereits in der Schule für diese beiden Bereiche des Lebens zu sensibilisieren, sie über Sachverhalte, Prozesse, Bedingungen und Perspektiven darüber aufbauend zu informieren, um auf diese Weise, ökonomische und politische Kompetenz bei jungen Menschen zu entwickeln. Denn als Angehörige einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder immer wieder vor Entscheidungen stellt - ob bei politischen Wahlen, bei Mitbestimmungsfragen im Betrieb und der Gemeinde, bei der Berufswahl und beim Konsum - sollten sie doch befähigt werden, im eigenen und im Sinne der Gemeinschaft verantwortlich handeln zu können (SITTE, W. 1998). 

Bemühungen, die Bereiche Wirtschaft und Gesellschaft in die Allgemeinbildung hineinzunehmen, hat es bereits in der Zeit der Ersten Republik gegeben. Damals wurde bis zum Auslaufen der Versuche Ende der zwanziger Jahre in den beiden obersten Klassen einiger Typen der Reformschulen der neue Pflichtgegenstand Wirtschafts- und Gesellschaftskunde eingerichtet (vgl. L. TESAR 1932). Auch 1962 überlegte man die Einführung eines neuen, eigenen Unterrichtsfaches, das diese beiden Bereiche in den allgemeinbildenden Schulen abdecken sollte. Sowohl Vertreter der Wirtschaft als auch Gruppen, die den Unterrichtsgegenstand „Politische Bildung“ in den verpflichtenden Fächerkanon einbringen wollten, waren dafür. Dass es dazu nicht kam, hat neben politischen vor allem schulische Gründe. Man wollte aus verschiedenen Motiven sowohl eine Vermehrung der Gegenstände und Wochenstunden (durch Einführung eines völlig neuen Faches) als auch die Reduzierung bzw. Beseitigung  eines traditionellen Gegenstandes vermeiden. Daher ging man pragmatisch vor und ordnete den Bereich Wirtschaft der Geographie und den Bereich Gesellschaft der Geschichte zu. Den dafür Verantwortlichen schwebte jedoch keine absolute Trennung dieser beiden Bereiche, die vielfach miteinander verzahnt sind, vor, sondern nur die jeweils schwerpunktmäßige Berücksichtigung in den beiden traditionellen Unterrichtsfächern. Seit dem Schulorganisationsgesetz 1962 tragen die beiden Fächer daher die Bezeichnungen Geographie und Wirtschaftskunde (abgekürzt GW; manchmal auch GWK) sowie Geschichte und Sozialkunde (GS).

 

2. Die Schulländerkunde

Auch nach 1945 dominierte in dem Schulfach, welches einmal Erdkunde dann wieder  Geographie hieß, das aus der Vorkriegszeit übernommene  Konzept der sogenannten Schulländerkunde. Ihre Bildungsaufgabe sah man im Aufbau von Kenntnissen über Österreich und der Vermittlung eines Weltüberblicks in Form einer Beschreibung der natürlichen Gegebenheiten (Lage, Relief, Klima, Pflanzenkleid), der Bevölkerung sowie wirtschaftlicher Fakten, die nach geographischen Aspekten ausgewählt wurden. Länder, Landschaften und Staaten standen im Mittelpunkt des Unterrichts, der in der Sekundarstufe I vom Nahen zum Fernen (= Prinzip der konzentrischen Kreise) fortschritt und mit Topographie, auf der Sekundarstufe II stärker mit Fakten, angereichert war. An „besonders geeigneten Stellen“ wurden beim länderkundlichen Durchgang ausgewählte „Grundbegriffe aus der Allgemeinen Geographie“ wie Kettengebirge, Tafelland , Karst, Trogtal, Siedlungsformen etc. eingeflochten. Gelegentlich versuchte man, auch die Fakten kausal zu verknüpfen, bzw. naturdeterministisch zu erläutern. Im Folgenden ein Beispiel aus dem damals dominierenden Erdkunde-Schulbuch von FUCHS, KELLNER, SLANAR: Erdkunde für die zweite Klasse der Mittel- und Hauptschule. Verlag Ed. Hölzer, Wien 1954.

Bulgarien (F: 111.000 km2 , 7 ¼ Millionen Einwohner), ein Nachbarstaat Jugoslawiens im Osten, wird vom B a l k a n, einem Kettengebirge, durchzogen. Das B u l g a r i s c h e  T a f e l l a n d  nördlich vom Balkan reicht bis zur Donau. Im Süden liegen mehrere  B e c k e n,  das größte an der oberen  M a r i t z a.

Der Balkan ist ein Kettengebirge mit  f  l  a c h e n,  k a h l e n  K u p p e n, die schroffen Formen des Hochgebirges fehlen ihm gänzlich. Dreißig Pässe ermöglichen die Überschreitung des Gebirges. Wohl steigen die Wege an der Südseite steil an; aber der Balkan ist immerhin leicht zu überschreiten und bildet deshalb keine Völkerscheide.  Im Norden und im Süden leben Bulgaren. Das Pflanzenkleid an seinen beiden Seiten ist gänzlich verschieden.  Die  N o r d s e i t e  trägt dichte L a u b- und N a d e l w ä l d e r, die Täler der sonnigen S ü d s e i t e  haben reichen  O b s t-  und  W e i n b a u

In der Gegend von  K a s a n l i k zieht man Rosen auf ausgedehnten Feldern (Gewinnung von Rosenöl). Auf einer fruchtbaren Hochfläche liegt die Hauptstadt Bulgariens,  S o f i a  (1/4  Million Einwohner), in einer Höhe von 566 m. In ihrer Nähe erhebt sich der kahle Gipfel der Witoscha. 

Das wellige  B u l g a r i s c h e  T a f e l l a n d  fällt im Norden mit einem Steilrand zur Donau ab, der die Flüsse in tief eingeschnittenen Tälern zufließen (Abb.) Das Tafelland trägt eine Decke von fruchtbarem Löß. Der Boden ist trocken und daher baumlos. Wo künstliche Bewässerung möglich ist, zieht man Gemüse. Sonst  trägt die Lößfläche Felder, die mit M a i s,  W e i z e n   und   T a b a k  bebaut sind. Für den Verkehr sind vor allem zwei Hafenplätze von Bedeutung:  R u s e   an der Donau und   V a r n a   am Schwarzen Meer.

Die Gebirge um das   o b e r e  M a r i t z a b e c k e n  (das Becken von P l o v d i v) sind reich bewaldet. Nur das  R i l o-Gebirge (2930 m) zeigt schroffe Formen. Im R h o d o p e-Gebirge gibt es zahlreiche Klöster (Abb.) Ihr festungsartiger Bau erzählt von den Verfolgungen während der Türkenzeit.   

Das Tiefland an der Maritza ist durch ü p p i g e  F r u c h t b a r k e i t  ausgezeichnet und daher dicht besiedelt. Die F e l d e r  tragen G e t r e i d e und T a b a k.  W e i n   und  O b s t  gedeihen trefflich, der  M a u l b e e rb a u m  ist häufig zu sehen.  Sumpfige Teile des Tieflandes sind mit R e i s bepflanzt. 

Der Reis muss mindestens als kleines Pflänzchen vollständig im Wasser stehen und braucht große Wärme. Schon in seiner ersten Entwicklung benötigt er eine Mitteltemperatur von mehr als 120; zur Zeit der Reife ist eine solche von mehr als 200  C erforderlich.

Durch das Becken von Plovdiv führt eine wichtige Bahnlinie. Diesen Weg nimmt der Orient-Expresszug (Istanbul-Sofia-Budapest-Wien-München-Paris).

Vier Fünftel der Bevölkerung sind  B u l g a r e n,  ein südslawischer Volksstamm. Zum Reste gehören etwa 500.000 Türken (Mohammedaner).

Bulgarien ist arm an Industrie. Nur wenige Fabriken verarbeiten Rohstoffe des Landes (Zucker- und Ledererzeugung), Tabakverarbeitung). Mehr verbreitet ist die H a u s i n d u s t r i e, vor allem die Weberei und die Teppichknüpferei. Dagegen kann Bulgarien von den Erträgnissen  seines Bodens ausführen: Getreide, Mehl, Vieh, Felle, Tabak und Rosenöl.  Bulgarien ist ein A c k  e r b a u s t a a t  und ein  wichtiges D u r c h g a n g s l a n d.

 

3. Versuche, wirtschaftskundliche Inhalte in das Fach einzubauen

Die Auswahl und der Einbau wirtschaftskundlicher Inhalte in die Schulländerkunde waren neben der Gewinnung der Lehrerschaft  für die Wirtschaftskunde die großen Probleme nach 1962. Gewisse Geographiemethodiker erkannten wohl, dass Wirtschaftskunde nicht mit Wirtschaftsgeographie gleichzusetzen ist, doch die meisten waren noch zusehr von der klassischen (wissenschaftlichen) Geographie geprägt, welche die Länderkunde als Krönung ansah. Daher wurden wirtschaftskundliche Sachverhalte einfach beim länderkundlichen Durchgang angehängt. In der Sekundarstufe I waren das nicht viele, wie die erstmals 1963 für die Hauptschule und 1964 für die AHS-Unterstufe veröffentlichten neuen Lehrpläne zeigen. Man traute den 10- bis 14jährigen wenig Interesse und Verständnis für wirtschaftliche Sachverhalte zu. Drei der Autoren des seit den Sechzigerjahren  fast flächendeckend in Österreich verbreiteten GW-Buches „Seydlitz“[2] meinten in diesem Zusammenhang, dass man in der Hauptschule und auf der Unterstufe der AHS nur 1/4 bis 1/5 der Unterrichtszeit für die Behandlung der Wirtschaftskunde verwenden sollte (A.MEIER, H.HASENMAYER, K.SCHEIDL 1971, S.12). 

Auf der Oberstufe der AHS führte der Lehrplan von 1970 - er ersetzte nach der Sistierung der 13. Schulstufe den bereits 1967 neu herausgekommenen -  dagegen rund hundert (!) wirtschaftskundliche Begriffe taxativ an. Sie sollten in den Klassen 5., 6 und 7 „möglichst anhand der Länderkunde erarbeitet werden“. Letztere trat in der 8. Klasse, in der GW mit GS eine vierstündige Arbeitsgemeinschaft bildete, die aber nur selten von einem in beiden Fächern geprüften Lehrer betreut wurde, zugunsten eines zum Großteil thematisch ausgerichteten Unterrichts zurück (W. SITTE 1973). Die klassenweise Zuordnung wirtschaftskundlicher Begriffe und die Lehrplanforderung, sie im Rahmen der Länderkunde, also gewissermaßen als Ergänzung, zu erarbeiten, führten im „Seydlitz“ (Band 5, 1972) und daher auch oft in der Praxis dazu, dass beispielsweise der Zusammenhang von Bedarf, Nachfrage und Angebot bei den Atlasländern oder die Funktion des Geldes bei Südafrika, gewissermaßen als Annex an den Basar bzw. die Goldproduktion, behandelt wurden. 

Wesentlich durchdachter und integrativer war der Vorschlag des an der Einführung der Wirtschaftskunde maßgeblich beteiligten J.KLIMT[3]. Als Praktiker lehnte er die Schaffung eines spezifischen Ökonomiefaches ab, weil er befürchtete, dass damit Nationalökonomie im Stil einer Dogmengeschichte bzw. nach der Systematik einer Universitätsdisziplin in die Schule eindringt. Sein Konzept, das er im Rahmen der Betriebsräteausbildung an der Sozialakademie entwickelt hatte und leider nur rhetorisch bei unzähligen Fortbildungsveranstaltungen für AHS-Lehrer meisterhaft vortrug, war das einer wirtschaftskundlichen Staatenkunde. An lebensnahen Beispielen, deren Abfolge sich aus dem länderkundlichen Durchgang durch die einzelnen Kontinente ergab, sollten die Schüler erkennen, welche wirtschafts- und sozialpolitische Möglichkeiten bestimmte Staaten aufgrund ihrer spezifischen Ausstattung mit Produktionsfaktoren (zu denen der Raum mit seinen Naturgegebenheiten genauso wie die Bevölkerungs-, Infra- und Kapitalstruktur gehören) besitzen und für welche Lösungen sie sich entschieden haben. Daraus könnten, so meinte er, die Schüler lernen, volks-, betriebs- und regionalwirtschaftliche Problemlösungen, die für ihr persönliches Leben und für die Entwicklung des Staates bestimmend sind, zu beurteilen. 

 

4. GW bei den Schulversuchen der siebziger Jahre

In den sechziger Jahren standen im Zusammenhang mit der Übertragung der neuen Bildungsaufgabe an die Schulgeographie im Mittelpunkt schulfachbezogener Tätigkeiten vor allem Fragen, welche die Auswahl wirtschaftskundlicher Inhalte betrafen, ihre Schulstufenzuordnung und methodische Aufarbeitung sowie das Weiterbildungsproblem der ökonomisch nicht professionell qualifizierten Lehrer (E.POHL u.a. 1970). Mit dem Beginn der siebziger Jahre rückte dann ein anderer Bereich immer stärker in den Vordergrund. Die Anstöße dazu kamen aus dem Feld der Erziehungswissenschaften (hier war es vor allem die Curriculumbewegung) und von den neu entwickelten Konzeptionen und Forschungsrichtungen der wissenschaftlichen Geographie[4]. Sie wurden auf Grund von fachdidaktischen Erfahrungen aus dem angelsächsischen und deutschen Sprachraum (SITTE, W. 1995) und der Unzufriedenheit mit der wirtschaftskundlich möblierten Schulländerkunde in der nun am Wiener geographischen Universitätsinstitut einsetzenden fachdidaktischen Diskussion fokussiert (SITTE, W.& H. WOHLSCHLÄGL 1975). Im Zusammenhang mit der zu Beginn der siebziger Jahre anlaufenden großen Reformphase des allgemeinbildenden Schulwesens  begannen gleichzeitig österreichweit Schulversuche, wodurch sich die Chance zur Verbesserung der GW-Lehrpläne ergab (SITTE,W. 1978). 

Beim AHS-Oberstufenversuch (KRAMER,G. 1986) wurde diese wegen des Übergewichts der „Traditionalisten“ in der Projektgruppe fast nicht genutzt. Es wurden zwar einige „neue“ fachwissenschaftliche Inhalte (vor allem  landschaftsökologische und sozialgeographische) eingebaut und auch der wirtschaftskundliche Bereich erfuhr eine Vermehrung. Aber der Versuchslehrplan blieb stofforientiert. Durch die Anordnung des Lehrstoffes nach Kulturerdteilen erhielt der Versuchslehrplan weder einen lernlogischen noch einen sachlogischen Aufbau. Zudem wurde das Kulturerdteil-Konzept in der Praxis meist missverstanden. Statt der Zusammenschau wirtschaftlicher, gesellschaftlicher sowie politischer Strukturen und Prozesse im Rahmen der durch A.KOLB[5] bekannt gewordenen Großräume subkontinentalen Ausmaßes glaubten viele, an einem oder zwei Staaten  exemplarisch die Merkmale des  jeweiligen Kulturerdteils darstellen zu können, womit die mit Wirtschaftskunde additiv angereicherte Schulländerkunde weiterbestand.  Erst nachträglich wurden den Stoffangaben im Versuchslehrplan der Oberstufe im Auftrag des „Zentrums für Schulversuche“ sogenannte Teillernziele aufgesetzt.[6] 

Innovativer war dagegen der Schulversuch im Bereich der Sekundarstufe I. Mit ihm wollte die  sozialdemokratische Bildungspolitik in der Ära Kreisky die Einführung der Gesamtschule erreichen. Was trotz positiver Evaluationsergebnisse (PETRI,G. 1981) nicht gelang, weil es sich dabei letztendlich  um eine gesellschaftspolitisch brisante Bildungsfrage handelt, für deren Lösung im Nationalrat eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Obwohl  die Projektgruppe GW bloß Vorschläge und Materialien für den GW-Unterricht in leistungsdifferenzierten Klassen im Rahmen des Lehrplanes von 1967 erstellen sollte, bekam sie auf  ihren Antrag hin, die Erlaubnis zur Erstellung eines völlig neuen Versuchslehrplanes (ANTONI, W.1986). In seinem Mittelpunkt standen nicht mehr Staaten, Länder und Landschaften, sondern Themen, an Hand derer räumliche, ökonomische, soziale und politische Aspekte zwanglos integriert werden können. Mit den Schulstufen aufsteigend nahm ihre inhaltliche Komplexität zu. Innerhalb der einzelnen Schulstufen wurden sie nach verschiedenen Prinzipien gruppiert. In der 6. Schulstufe beispielsweise nach sachlogischen Gesichtspunkten, in der 7. (und zwar nur in dieser Schulstufe, nicht in den anderen, wie manchmal zu lesen ist!) nach den von  den Münchner Sozialgeographen K.RUPPERT und F.SCHAFFER bekannt gemachten  (Grund-) Daseinsfunktionen[7]. Die Themen betrafen das Leben und Wirtschaften der Menschen in Österreich und der Welt. In der 5. und 6. Schulstufe. wurden Nah- und Fernthemen vergleichend gegenübergestellt, in der 7. gab es nur Österreichthemen. Sowohl durch die wirtschaftskundliche Thematik und die Österreichklasse als auch durch das Fehlen des „Allgemeingeographischen Ansatzes“ im Aufbau unterschied sich der Versuchslehrplan deutlich von den deutschen Reformlehrplänen der damaligen Zeit. Um die Themen  besser transparent zu machen und außerdem die wissenschaftlichen Kontrolle des Schulversuchs zu erleichtern, enthielt der GW-Lehrplan erstmals Zielstellungen. Damit leitete der Schulversuch GW 5 bis 8 eine neue Periode des Geographie und Wirtschaftskunde-Unterrichts in Österreich ein. Zusätzlich erprobte der GW-Schulversuch auch damals für das Fach in Österreich zum Teil neue Methoden wie etwa den operativen Unterricht, das entdeckende Lernen, didaktische Spiele, innere Differenzierung sowie Projektunterricht. 

 

5. Der Paradigmenwechsel des Faches in den achtziger Jahren

Die in den achtziger Jahren, nach Auslaufen der Schulversuche aufgrund der dabei gewonnenen Erfahrungen neu entwickelten GW- Lehrpläne für die Hauptschule und die Allgemeinbildende höhere Schule brachten dem Unterrichtsfach einen neuen Bildungsauftrag und bewirkten seine fachdidaktische Neustrukturierung.

Geographie und Wirtschaftskunde wird danach als ein doppelpoliges Zentrierfach unter dem Gesichtspunkt der Politischen Bildung aufgefasst, wobei diese im Sinne des 1978 vom Bundesministerium für Unterricht. Kunst und Sport verordneten „Grundsatzerlasses zur Politischen Bildung“ verstanden wird (BMUKS 1978). Das Schulfach soll Motive und Auswirkungen, Regelhaftigkeiten und Probleme menschlichen Handelns in den beiden zum Teil eng miteinander verflochtenen Aktionsbereichen Raum und Wirtschaft sichtbar und verständlich machen. Der junge Mensch soll dabei aktiv erfahren, dass die agierenden Gruppen und Individuen teils von gleichartigen, teils aber oft auch von sehr unterschiedlichen Interessen geleitet werden sowie stets unter dem Einfluss bestimmter, nicht immer unveränderbarer Human- und Naturbedingungen stehen. Auf diese Weise kann er potenzielle Möglichkeiten ökonomischen und raumbezogenen Handelns erkennen und seine eigenen Einstellungen und  Verhaltensweisen dazu überdenken. Das Unterrichtsfach leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer auf kritischer Reflexion beruhenden Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit, die sowohl für das persönlich individuelle als auch für das politisch soziale Leben in unserer Gesellschaft notwendig sind. (Abb.1)

Abb.1: Die Bildungsaufgabe des Faches Geographie und Wirtschaftskunde

Bildungsaufgabe in Geographie und Wirtschaftskunde

6. Das neue fachdidaktische Konzept von Geographie und Wirtschaftskunde

Geographie und Wirtschaftskunde bilden nach dieser Sicht eine Ganzheit und sind nicht zwei getrennt nebeneinander stehende Lernbereiche. Dies sollte meiner Meinung nach sprachlich auch dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass die Bezeichnung des Unterrichtsgegenstandes mit zwei Bindestrichen (Geographie- und Wirtschaftskunde-Unterricht) zugunsten derjenigen mit nur einem (Geographie und Wirtschaftskunde-Unterricht) aufgegeben wird. Dass es heute noch Insider gibt, die nur vom Geographieunterricht sprechen, geht wohl auf Schlamperei oder auf die  Ignorierung der „ökonomischen Aufgabe“ unseres Faches zurück. 

Das Fach Geographie und Wirtschaftskunde als Ganzes kann nicht auf einem Konzept basieren, dessen Hauptziel es ist, ausschließlich räumliche Strukturen vorzustellen und verständlich zu machen.[8] Das hat in gewissen Fällen sicher seine Berechtigung. Viele ökonomische und gesellschaftliche Phänomene lassen sich jedoch nicht auf räumliche Gegebenheiten zurückführen, nicht von ihnen her erklären und verstehen. Deshalb brauchen wir für das Fach Geographie und Wirtschaftskunde eine neues didaktisches Basiskonzept. Dieses stellt den in gesellschaftlicher Bindung räumlich und wirtschaftlich handelnden Menschen in den Mittelpunkt des Unterrichtsfaches. 

Das dem Fach zugrunde liegende neue Konzept ist daher ein gesellschaftsorientiertes Handlungskonzept. In ihm werden das Sichtbarmachen und Erklären der erdräumlichen und ökonomischen Aktivitäten des Menschen, das Hinterfragen der Motive und Beeinflussungen sowie das Aufzeigen der daraus resultierenden Folgen zur neuen zentralen Aufgabe des Unterrichts. Wie, warum und unter welchen subjektiven, sozio-kulturellen und physisch-materiellen Gegebenheiten raum- und wirtschaftsbezogenen Handlungen zustande kommen sollen Heranwachsende an lokalen, regionalen und globalen Lebenswirklichkeiten kennen lernen, um daraus Anregungen für das eigene Tun zu gewinnen.  

Das Handlungskonzept macht es gleichzeitig möglich, fachliche Inhalte verschiedener Bezugswissenschaften unseres Unterrichtsgegenstandes in einem einheitlichen Lernbereich nach pädagogischen Zielsetzungen (nicht fachwissenschaftlichen Ordnungsprinzipien!) zu zentrieren. Die Vermittlung von Fakten über Länder und Staaten tritt stark zurück. Solche findet man heute (meist aktueller als im Unterricht angeboten) in preiswerten jährlich neu erscheinenden Taschenbüchern, auf zahlreichen CD-ROMs sowie immer reichlicher im Internet. Was aber wichtig ist und in der modernen Informationsflut immer notwendiger wird, ist Schülern beizubringen, wie man entsprechende Informationen findet und kritisch untersucht, ehe man sie verwendet.  

Abb.2: Die Aktionsbereiche Raum und Wirtschaft, ihre starke Überlagerung sowie die beispielhafte Zuordnung von ausgewählten Zielen des Faches GW

Aktionsbereich Raum und Wirtschaft

Im Abschnitt 5 wurde bereits von den beiden Aktionsbereichen „Raum und Wirtschaft“ gesprochen. Damit sind zwei Prozessfelder gemeint, in denen sich raumbezogene und wirtschaftsbezogene Aktivitäten vollziehen (Abb.2). Selbstverständlich spielen sich alle Aktivitäten auf einem Standort oder einer Bodenfläche ab. Solchermaßen sind sie, wenn sie mit Wirtschaft zusammenhängen, oft ein Objekt der Wirtschaftsgeographie. Es gibt jedoch auch wirtschaftliche Aktivitäten, die primär nichts mit einer Widmung oder Nutzung von Bodenflächen zu tun haben und bei denen räumlichen Faktoren keine Rolle spielen. Wenn jemand sein Geld anlegen will und sich deshalb im Internet über Sparformen informiert, hat das genau so wenig mit Wirtschaftsgeographie zu tun wie die Reform des Pensionssystems oder das Stopfen des Budgetlochs mit neuen Steuern. Auch die Berücksichtigung des Produktivitätszuwachses und des Verbraucherpreisanstieges bei Lohnverhandlungen hat primär nichts mit räumlichen Gegebenheiten zu tun. Selbst bei manchen Standortentscheidungen spielen öffentliche Förderungen oder persönliche Präferenzen oft eine größere Rolle als die klassischen Standortfaktoren. Die vorgebrachten Beispiele zeigen primär wirtschaftsbezogene Aktivitäten. Umgekehrt gibt es auch Aktivitäten, die primär raumbezogen sind und die direkt nicht mit Wirtschaft zusammenhängen, wie beispielsweise das Benutzen einer topographischen Karte, um sich bei einer Bergtour im Gelände zurecht zufinden, das Auswerten von Wetter- bzw. Klimadaten bei einer Ausflugs- bzw. Reiseplanung, das Abschätzen einer Lawinengefahr oder das Herausfinden des Zusammenhanges von Boden, Klima und Vegetation. Das Adverb „bezogen“ will also nur die primäre Zielrichtung der Aktivitäten anzeigen. 

Allerdings überlagern sich bei vielen menschlichen Handlungen die Raum- und die Wirtschaftsbezogenheit und die dabei ablaufenden Handlungsprozesse wirken wechselseitig aufeinander ein. Man kann sie deshalb nur verstehen, wenn man beide „Bezogenheiten“ zur Analyse und Erklärung heranzieht. So wäre es unklug, bei der Entscheidung für eine Wohnung nur an erdräumlichen Strukturen zu denken und ökonomische sowie rechtliche Gesichtspunkte zu vernachlässigen. Ebenso wäre es völlig falsch, die Ende der neunziger Jahre so oft genannten „Schlüsselprobleme“ - was immer ihre Erwähner dabei aufzählen - nur raumbezogen und nicht raum-, wirtschafts- und gesellschaftsbezogen zugleich zu sehen. Ohne Zweifel hängt beispielsweise die Globalisierung auch mit wichtigen räumlichen Prozessen zusammen und hat raumstrukturelle Auswirkungen, der Motor der Globalisierung sind jedoch primär wirtschaftliche Interessen, die von bestimmten Gruppen ganz massiv verfolgt werden. Und es gibt dabei profitierende Gewinner und betroffene Verlierer. Auch das Vorhaben der Osterweiterung der Europäischen Union wird man nur verstehen, wenn neben dem räumlichen Aspekt und der historischen Hinterlassenschaft zugleich die hinter der Erweiterung stehenden politischen und ökonomischen Interessen aufgedeckt werden. In allen Fällen müssen Raum- und Wirtschaftsbezogenheit zusammen herausgearbeitet und dargestellt werden, wenn die Vorgänge verstanden werden sollen. Ganzheitliches und finales Denken, das Vernetzungen, Zusammenhänge und mögliche Auswirkungen sichtbar werden lässt, wird sowohl für Fragen im lokalen wie regionalen und globalen Bereich immer notwendiger, wenn Bürger politisch mitentscheiden sollen.  

Mit Hilfe der Methode, dass im Zusammenhang mit der Entscheidungsfindung Handlungsabläufe, die einen Sachverhalt generieren, aufgezeigt und hinterfragt werden, können viele Phänomene der realen Welt für Lernende erfahrbarer und verständlicher gemacht werden. Oft wird man in der Praxis dabei von den durch Handlungen in verschiedenen Lebensbereichen hinterlassenen „Spuren“ ausgehen. Dabei tauchen Fragen auf, wie etwa: Wieso nimmt auch bei uns die Armut immer stärker zu, obwohl wir zu den reichsten Volkswirtschaften der Erde zählen? Oder: Warum siedeln sich immer mehr Menschen, meist weit entfernt von ihren Arbeitsplätzen, im Umland der Kernstädte an, während in deren verbautem Gebiet zahlreiche Wohnungen leer stehen? In einem weiteren Schritt wird man versuchen, verschiedene Bedingungen herauszufinden, durch die solche Prozesse ausgelöst und beeinflusst werden. Man wird Zusammenhänge suchen und Auswirkungen aufdecken - aber nicht nur räumliche, sondern auch wirtschaftliche und gesellschaftliche. Dabei stößt man auf unterschiedliche Interessen und sollte erkennen, wie in manchen Fällen bestimmte Gruppen ihre Interessen auf Kosten anderer durchsetzen, während in anderen Fällen Kompromisse zustande kommen (können). Vielleicht erkennt man auch prinzipielle Regelhaftigkeiten solcher Prozesse. Das würde helfen, vorzuschlagen, mit welchen Maßnahmen es eventuell möglich wäre, die bei dem Thema sichtbar gewordenen Probleme akzeptablen Lösungen zuzuführen. 

Mit dem Handlungskonzept kann die ganzheitliche Betrachtung vieler Phänomene bei den Lernenden gefördert und zugleich das G mit dem W besser miteinander verschmolzen werden. Lehrerausbildner, insbesondere Fachdidaktiker, sollten an diesem „Verschmelzen“ von G und W weiterarbeiten, denn man darf nicht vergessen, dass es die vom Gesetzgeber 1962 beschlossene Zuordnung der Wirtschaftskunde zur Geographie war, die diesem Schulfach (im Gegensatz etwa zur Situation in  Deutschland) seine Position in den österreichischen allgemeinbildenden Schulen (bis jetzt) erhalten hat.  

Das Handlungskonzept, das die traditionelle Raumzentrierung des Unterrichtsfaches überwinden hilft, kann zwar die alte „Fußnoten-Verbindung“ (GELDNER 1986) von Geographie und Wirtschaftskunde beseitigen, bis heute fehlt aber dem Unterrichtsfach ein genaues lernpsychologisch begründetes pädagogisches „Gerüst“ für den Ziel-/Inhaltsbereich. Der im Lehrplan 1984/85 (nur für den Sekundarbereich I) unternommene Versuch, ihn nach zunehmender Komplexität aufsteigend anzuordnen,   ist - und das auch nur zum Teil - empirisch abgeleitet und nicht lerntheoretisch abgesichert. Es wäre eine wichtige Aufgabe einer wissenschaftsorientierten Fachdidaktik, endlich daran zu gehen, ein solches, lernpsychologisch begründetes pädagogisches „Gerüst“ sowohl für die Sekundarstufe I als auch Sekundarstufe II zu entwickeln.  

Literatur


[1]Eine ausführliche, quellenmäßig belegte Darstellung der Entwicklung nach 1945, die auch den politischen Hintergrund ausleuchtet und die Kontroversen bei der Entstehung der Lehrpläne zeigt, findet man bei Ch. SITTE (1989).Leider wurde diese Arbeit bisher nicht publiziert und, wenn überhaupt, nur flüchtig gelesen. Daher findet man in manchen neueren Beiträgen, die sich auf „Spurensuche zu den didaktischen Wurzeln“ (H. PICHLER 2000) des Unterrichtsfaches GW begeben, viele Ungereimtheiten.

[2] Das von österreichischen Autoren verfasste Buch erschien zwar beim Verlag Ed. Hölzer in Wien, wurde aber von Hirt/Kiel lektoriert, wobei der deutsche Seydlitz teilweise Vorbild war. 

[3] Siehe W.Sitte: Zur Erinnerung an Hofrat Klimpt. In: GW-UNTERRICHT Nr. 61 /1996, S. 80-81.

[4] In diesem Zusammenhang muss auch an die 1971 in Raach vom Unterrichtsministerium veranstaltete Fortbildungsveranstaltung „Sozialgeographie“ für AHS-Lehrer erinnert werden. H. Bobek entwickelte in einem einwöchigen Intensivkurs dort mit anschaulichen Beispielen seine Konzeption der Sozialgeographie. Im Anschluss an sie wurde unter Federführung von H. Bobek und W. Sitte eine Resolution an das Ministerium verfasst. Darin wurde vorgeschlagen, einen zukünftigen Oberstufenlehrplan nicht mehr länderkundlich, sondern sozialgeographisch auszurichten (Mitt. Österr. Geogr. Ges. Bd. 113, S. 325 f). 

[5] Kolb, A. (1962): Die Geographie und die Kulturerdteile. In: Festschrift für H. von Wissmann. Tübingen, S. 42-49.

[6] Siehe dazu S. 287-301 in der Zeitschrift GW-UNTERRICHT Nr. 23 / 1986, wo der Lehrplanentwurf  1985 für den AHS – Oberstufenschulversuch abgedruckt ist.

[7] Diese gehen eigentlich ideenmäßig auf H. Bobeks Sozialfunktionen  und namensmäßig auf D. Partzsch zurück.

[8] Auch die wissenschaftliche Geographie, die allerdings nur eine Bezugswissenschaft unseres Unterrichtsfaches ist, rückt vom Raum  als zentrale, ihr zugrunde liegenden Gegebenheit ab.  „Die Hypostasierung von Raum versperrt vielen Sozialgeographen den Zugang zur Gesellschaftsforschung“. Und „Bei Bezugnahme auf den Kritischen Rationalismus ist die Sozialgeographie als Handlungswissenschaft..., nicht als Raumwissenschaft zu definieren.“(B. WERLEN 1997, S. 393 bzw. 390). Siehe auch WEICHHART (1998) und WERLEN (2000). Besonders das zuletzt erwähnte Buch sollte zur Basislektüre jedes GW-Studenten und GW-Lehrers gehören.

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Zentrum für innovative Pädagogik
Autor: Wolfgang Sitte  -
Zentrum für innovative Pädagogik an der Pädagogischen Akademie der Diözese Linz
Layout. Elke Wöß
Letzte Aktualisierung:   18. Mai 2000

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