Kollektivverträge

Der Kampf um ihr Geld

Gehaltserhöhung. Tausende GewerkschafterInnen sind Jahr für Jahr damit beschäftigt, allen ArbeitsnehmerInnen die wohlverdiente Gehaltserhöhung und vernünftige Arbeitsbedingungen zu verschaffen


In wenigen Wochen ist es wieder soweit: Fast alle österreichischen ArbeitnehmerInnen bekommen wieder ihr Weihnachtsgeld überwiesen. Sie glauben, es stünde Ihnen gesetzlich zu? Weit gefehlt - Weihnachts- und Urlaubsgeld sind Bestandteil der Kollektivverträge und wurden in langwierigen und mühsamen Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebervertretungen verhandelt. Fast keiner kann sich wirklich vorstellen, daß es sogar heute noch Branchen gibt, die kein Weihnachtsgeld bekommen.

Kollektivverträge sind so selbstverständlich, daß die meisten ÖsterreicherInnen gar nicht mehr darüber nachdenken, wer sie verhandelt und was sie alles regeln. Viele glauben, die jährlichen Lohn- und Gehaltserhöhungen würden vom Parlament oder der Regierung beschlossen. Tatsächlich sind diese Themen Mittelpunkt der jährlichen Kollektivverhandlungsrunden, die zwischen den zuständigen Gewerkschaften und den gesetzlichen Interessenvertretungen der Arbeitgeber stattfinden. Kollektivverträge regeln aber auch die meisten arbeitsrechtlichen Mindeststandards mit jener Autorität, die sonst nur Gesetze haben. Sie regeln die Mindestlöhne und legen fest, wie hoch die Lehrlingsentschädigungen sind, wer Anspruch auf Zulagen hat, wie die Arbeitszeit eingeteilt wird, wie mit Überstunden umgegangen wird, wie lange im Krankheitsfall das Gehalt weiterbezahlt wird und vieles mehr.

ãDie Kollektivvertragspolitik hat die soziale Entwicklung in Österreich entscheidend beeinflußt", erklärt Karl Haas, Leitender Sekretär der Gewerkschaft Metall-Bergbau-Energie (GMBE). Das bestätigt auch Franz Traxler, Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Wien: ãIn Ländern ohne Kollektivverträge herrscht ein extrem hohes soziales Ungleichgewicht. Die Schwächeren werden noch schwächer und in der Folge finden häufig Streiks statt."

Bestes Beispiel sind die USA. Dort werden nur rund 13 Prozent der ArbeitnehmerInnen in der Privatwirtschaft von Kollektivverträgen erfaßt. Die Folge: Fast die Hälfte der Amerikaner verdient heute weniger als vor zehn Jahren. Streiks stehen an der Tagesordnung; zuletzt legten die Ausstände bei dem privaten Zustelldienst UPI und General Motors die halbe Wirtschaft lahm.

Nicht überall sind Arbeitgeber so besonen wie in der Metallbranche. Der Oräsident der Gewerkschaft Bau-Holz, Johann Driemer bei einer Kundgebung der Bauarbeiter

Keine Lust auf Nulldiät hatten Ruolf Kaske, Vorsitzender der HGPD und die Beschäftigten im Gastgewerbe. Erst Protestaktionen führten zu ersten positiven KV-Abschlüssen

In Österreich werden derartige Auseinandersetzungen weitgehend vermieden, weil die Sozialpartner in den Verhandlungen gemeinsam nach Lösungen suchen, mit denen alle Beteiligten leben können. So wird etwa bei uns die Arbeitszeitfrage nicht wie bei UPS auf der Straße diskutiert, sondern in Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Rahmen von Kollektivverträgen geregelt. ãViele soziale Errungenschaften, die heute in Österreich gesetzlich verankert sind, wurden zuerst in den Kollektivverträgen festgeschrieben", erklärt Karl Haas. Zum Beispiel die Arbeitszeitverkürzung von 60 Stunden nach dem Krieg auf derzeit 38 Stunden. ãDie Arbeitszeitverkürzungen wurden zuerst über Kollektivverträge in einzelnen Branchen vereinbart, später in einem Generalkollektivvertrag für alle ArbeitnehmerInnen geregelt und schließlich gesetzlich verankert", berichtet Karl Klein, Leiter des Referats für Kollektivverträge im ÖGB.

Auch die Abfertigungsansprüche bei Kündigungen durch den Arbeitgeber wurden ursprünglich in Kollektivverträgen geregelt. Erst später übernahm ein Gesetz diese Bestimmungen. Auf die gleiche Weise sind auch das Urlaubsgesetz und das Entgeltfortzahlungsgesetz, das die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bestimmt, entstanden. Insgesamt gibt es in Österreich über 700 verschiedene Kollektivverträge. Allein 1997 haben Funktionäre des ÖGB und der Gewerkschaften 466 Kollektiv-vertragsverhandlungen abgeschlossen und dabei eine Lohnsumme von 1.035,8 Milliarden Schilling bewegt - das ist mehr als die Republik Österreich pro Jahr an Budget zur Verfügung hat. Das wichtigste Thema der Kollektiv-vertragsverhandlungen ist die jährliche Erhöhung der Gehälter, Stundenlöhne und Zulagen. Damit das Lohnniveau nicht einfriert, werden die Zusatzkollektivverträge, die die Gehälter einer Branche regeln, nur für ein Jahr abgeschlossen.

Die Gewerkschaften setzen sich auch in Fragen der Arbeitszeitverkürzung und Weiterbildung neue Ziele. Rund 2000 Funktionäre und hauptberufliche Mitarbeiter sind an den Kollektivvertragsverhandlungen jährlich beteiligt. Das ganze Jahr über beobachten sie die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Branchen und der Gesamtwirtschaft. Vor Ort informieren sie sich bei den Betriebsräten über Probleme und Bedürfnisse der ArbeitnehmerInnen. ãWenn es in die heiße Phase geht, stehen die Büros der zuständigen Verhandler in höchster Alarmbereitschaft. Oft dauern die Gespräche bis tief in die Nacht", schildert Karl Klein.

Sich zurücklehnen und ausruhen, ist trotz beendeter Verhandlungen nicht drinnen: ãSobald ein KV abgeschlossen ist, beginnen schon wieder die Vorbereitungen für den nächsten", weiß Karl Haas. Doch das Klima bei den Verhandlungen mit den Vertretern der Arbeitgeber wird zunehmend rauher. ãDie Zeiten sind vorbei, wo jedes Jahr nach zwei, drei Verhandlungsrunden mit der Arbeitgeberseite ein Fertigprodukt Kollektivvertrag mit ein paar Prozent Lohnerhöhung präsentiert werden konnte", berichtet Rudolf Kaske, Vorsitzender der Gewerkschaft Hotel, Gastgewerbe, Persönlicher Dienst (HGPD). ãHeute kommt es durchaus vor, daß von der Arbeitgeberseite wie etwa bei den Friseuren überhaupt keine konstruktiven Verhandlungen mehr angeboten werden." Protest auf der Straße Tatsächlich mußten in der jüngsten Zeit mehrere Berufsgruppen wie etwa die Beschäftigten im Gastgewerbe, Maler, Tischler, Bauarbeiter oder Lkw-Fahrer mit Aktionen auf der Straße auf ihre Probleme bei den KV-Verhandlungen aufmerksam machen.

Dazu Karl Klein: ãVor allem in kleinen Betrieben, wo es meistens nicht einmal einen Betriebsrat gibt, sind nur wenige ArbeitnehmerInnen gewerkschaftlich organisiert. Dadurch haben wir oft zuwenig Möglichkeiten, bei den Verhandlungen mit der Wirtschaftskammer Druck zu machen." Karl Klein weiter: ãWir können nur dann das Erreichte erhalten und verbessern, wenn der ÖGB genügend Mitglieder hat, damit das Spiel von Macht und Gegenmacht funktioniert." Christine Deutsch, Annemarie Kramser4


Kollekivverträge

Kollektivvertrag ist nicht gleich Kollektivvertrag (KV). Ein kleiner Überblick:

Branchenkollektivvertrag: Das ist der ãnormale" KV, der das Mindesteinkommen und über das Gesetz hinausgehende arbeitsrechtliche Bedingungen für eine ganze Branche regelt. Er wird meist zwischen den entsprechenden Fachgruppen der Wirtschaftskammer und den Fachgruppen des ÖGB verhandelt. Der Branchenkollektivvertrag kann zweigeteilt sein in den

Rahmenkollektivvertrag: Er regelt die Arbeitsbedingungen.

Zusatzkollektivvertrag: Er enthält die Gehaltsbestimmungen einer Branche. Diese Bestimmungen werden normalerweise alle zwölf Monate den neuen Erfordernissen angepaßt.

Generalkollektivvertrag: Er gilt für alle Branchen und wird zwischen den Dachverbänden ÖGB und Wirtschaftskammer abgeschlossen. Generalkollektivverträge kommen sehr selten vor und wurden bisher unter anderem zur Verkürzung der Arbeitszeit eingesetzt.

Eine haarige Geschichte

Bei den FriseurInnen stehen seit Jänner 1996 die Zeichen auf Sturm - und die Ergebnisse der KV-Verhandlungen sitzen in der Flaute fest. Damals übermittelte Friseur-Gewerkschafterin Ulrike Legner dem neuen Bundesinnungsmeister Franz Pfister ein Forderungspapier. Wenige Wochen später kam es zu ãeiner total unkonstruktiven Verhandlungsrunde mit den Arbeitgebervertretern", erinnert sich Legner. Danach herrschte trotz ihrer Bemühungen Funkstille.

Gepflanzte Friseure

Erst am 13. Mai 1996 traf man sich wieder und von Innungsseite kamen etliche Forderungen, die im KV gar nicht geregelt werden können, da sie Gesetze betreffen. Darunter längere Probezeiten und die Abschaffung der Behaltefristen für Lehrlinge. Legner wies bei diesem Treffen auf HGPD-Forderungen hin, die dem Arbeitgeber nichts kosten würden, wie die pünktliche Monatslohnauszahlung am Monatsletzten, die ãbei Friseuren gar nicht gang und gäbe ist". Pfister unterbrach von sich aus die Verhandlungen, man einigte sich auf Stillschweigen. Zwei Tage später erklärte aber Pfister in den Medien keck, ãdem ÖGB den Kopf zu waschen". Nun organisierte Legner aus Protest eine Straßenaktion mit Gratishaarschnitten in Wien. Als dies noch immer nichts fruchtete, versuchten Legner und ihr Team nach dem Vorbild der Sektion Hotel- und Gastgewerbe auf Landesebene weiterzuverhandeln. Arbeitgeber-Verhandler Pfister antwortete mit einem neuen Forderungspaket, das Verschlechterungen für ArbeitnehmerInnen enthielt. Die Gewerkschafterin lenkte dennoch ein und forderte statt der ursprünglich zwei weiteren Lohnstufen ab dem sechsten Berufsjahr nur mehr die Erhaltung der jetzigen Lohnskala. Legner: ãDarauf antwortete Herr Pfister mit 'entweder Sie erfüllen meine Forderungen oder es gibt nichts'." Im Jänner 1998 wurde die HGPD schließlich wieder zu Verhandlungen eingeladen. Bei dem Gespräch, das Anfang Februar stattfand, appellierte Legner an Pfister, zumindest den Lohnvertrag abzuschließen. Das wurde nicht nur verweigert, vielmehr wurden die Verhandlungen von Pfister abgebrochen..

Ulrike Legner (rechts) möchte seit Mai 1996 KV-Verhandlungen mit der Bundesinnung führen. Jeder Verhandlungsansatz wird seither mit Ablehnung bestraft

Sieg der Vernunft

Die Vertreter der Gewerkschaft Bau-Holz trauten bei den jüngsten Kollektivvertragsverhandlungen für rund 130.000 Bauarbeiter ihren Augen nicht: Was die Arbeitgeber als Forderungskatalog auf den Tisch legten, war ãein Anschlag auf die Einkommen und soziale Absicherung der Bauarbeiter", erinnert sich Johann Driemer, Vorsitzender der Gewerkschaft Bau-Holz. Wäre es nach den Vorstellungen der Arbeitgeber gegangen, dann hätte jeder einzelne Bauarbeiter rund 40.000 Schilling im Jahr weniger verdient. Außerdem forderten die Bauherren Verschlechterungen im Urlaubsrecht und bei den Lehrlingsentschädigungen, Abstriche beim Weihnachtsgeld und vieles anderes mehr.

Gemeinsam stark

Mehrere Verhandlungsrunden blieben erfolglos. Daher holte sich das Gewerkschaftsverhandlungsteam die Unterstützung ihrer Mitglieder. Über 3.000 BauarbeiterInnen marschierten am 8. April 1998 durch die Wiener Innenstadt. Auch in den anderen Bundesländern fanden Protestaktionen statt. Unter dem Motto ãTatort Baustelle" wehrten sie sich dagegen, daß auf ihrem Rücken ãLohn- und Sozialabbau" betrieben werden soll. Ihr Engagement führte zum Erfolg: In der fünften KV-Verhandlungsrunde setzten sich Driemer und sein Team durch, die Arbeitgeber mußten ihre Forderungen, die Verschlechterungen für die Bauarbeiter gebracht hätten, zurücknehmen. Nach einem zehnstündigen Verhandlungsmarathon einigten sich die Sozialpartner auf eine kollektivvertragliche Mindestlohnerhöhung von zwei Prozent. Außerdem beschlossen die Sozialpartner einen Arbeitskreis, in dem Vorschläge zur Verbesserung des Bau-Rahmenkollektivvertrages erarbeitet werden. Kommentar Driemer: ãDas war ein Sieg der Vernunft."

Die Gewerkschaft Nau/Holz mußte kämpfen, daß der KV nicht schlechter wird

 

Taktisches Krankjammern

Die Branchen der Gewerkschaft Textil, Bekleidung, Leder zahlen miserabel. Ihren Arbeitnehmern graut aber vielmehr vor Produktionsauslagerungen ins Ausland und Geschäftsschließungen wegen millionenteurer Umweltauflagen. 1997 spielten die Verhandlungspartner der Textilgewerkschaft nach 50 Jahren Sozialpartnerschaft nicht mehr mit. Auf das Forderungsschreiben der Gewerkschaft Textil, Bekleidung, Leder (TBL) kam von seiten der Arbeitgeber: ãWir sehen uns außerstande, mit Ihnen in Gespräche zu treten." TBL-Zentralsekretär Claus Bauer: ãAls wir nach Straßenaktionen und Betriebsrätekonferenzen in Bürogespräche eingetreten sind, hieß es, 'so ist das nicht gemeint'. Das war eine Verzögerungstaktik, durch die man auf Arbeitgeberseite vier Monate gewonnen hat." Bei einer KV-Geltungsdauer von zwölf Monaten ist das ein Viertel der Laufzeit. Wird eine Lohnerhöhung dann nicht rückwirkend mit Auslaufen des letzten KVs vereinbart, verringert sie sich in ihrer Auswirkung auf die Brieftasche der Arbeitnehmer um 25 Prozent. ãDie Lohnrunden finden in den Köpfen der Arbeitnehmer statt. So ist die Bekleidungsindustrie durch die Auslagerungen ins Ausland beispielsweise schwer geschockt. Da sind die Leute eher bereit, einem geringen Plus zuzustimmen, nur um ihren Arbeitsplatz zu behalten", meint Bauer.

Am seidenen Faden

Für Arbeitnehmer nicht wirklich einsichtig, aber ein Faktum: Man muß zwischen Industrie- und Gewerbebetrieben unterscheiden. Im industriellen Bereich gelten die besseren Industrie-KVs. Aber im gewerblichen Bereich ­ wo es oft genauso große Firmen gibt ­ gab es seit drei Jahren keine Istlohnerhöhung. Bauer: ãNach drei erfolglosen Verhandlungsrunden in diesem Jahr haben wir die Betriebsräte zu Flugblattaktionen aufgerufen. Beim vierten Gespräch konnten wir dann zumindest die KV-Löhne um 1,50 Schilling pro Stunde erhöhen, das entspricht 2,3 Prozent." Dank der endlosen Verhandlungen verstrichen aber fünf Monate seit Ablauf des letzten KVs . Die verhandelte Erhöhung entspricht also tatsächlich nur 1,65 Prozent ­ bei einer Inflation von 1,2 Prozent. Immerhin konnte die TBL eine Erhöhung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld auf dreieinhalb Wochenverdienste im vierten Dienstjahr und 4,33 Wochenverdienste im fünften. Dienstjahr anheben. Wer sich jetzt wundert, daß die Sonderzahlungen nicht ab dem ersten Dienstjahr je einen vollen Monatsverdienst betragen, dem sei gesagt, daß z. B. in der Schuhindustrie erst vor kurzem der volle 13. und 14. Monatslohn ab dem zweiten Dienstjahr geregelt werden konnte. Und das auch erst ab dem Jahr 2000. So schaut's aus.

Gemeinsam sind sie stärker

Die Arbeitgeber der OMV glaubten bei den letzten KV-Verhandlungen besonders schlau zu sein. Die Arbeitnehmer müßten sich dieses Mal bescheiden, meinten sie. Die wirtschaftliche Lage sei katastrophal, Gewinne daher kaum zu erwarten. ãWer es glaubt, wird selig", dachten sich die Arbeitnehmervertreter und ließen von Experten eine Branchenanalyse erstellen. Das Ergebnis: Die Branchenmultis wiesen nur deshalb keine Gewinne aus, weil sie alles zu den Muttergesellschaften ins Ausland schickten. ãDa haben wir ein gutes As im Ärmel gehabt, mit dem wir dann eine Erhöhung der KV-Löhne um 2,7 Prozent erreicht haben", erinnert sich Franz Kiegler, Betriebsratsvorsitzender bei der OMV-Raffinerie in Schwechat.

Gemeinsame Verhandlungen

Die Beschäftigten der OMV werden von drei verschiedenen Gewerkschaften vertreten. Der Bereich Bohrung und Förderung des Rohöls zählt zur Gewerkschaft Metall-Bergbau-Energie. Die Beschäftigten des Bereiches Verarbeitung gelten als Chemiearbeiter und die Angestellten der Verwaltung werden von der Gewerkschaft der Privatangestellten vertreten. Drei verschiedene Bereiche, das macht theoretisch drei verschiedene KV-Verhandlungen .Damit nicht die Interessenvertretungen gegeneinander ausgespielt werden, verhandeln die drei Gewerkschaften schon seit rund 20 Jahren gemeinsam. In der Zwischenzeit gehören gemeinsame Verhandlungen verschiedener Gewerkschaften zur Tagesordnung. ãSicher, bei dieser Solidarität zwischen den Gewerkschaften muß jeder einmal Abstriche machen. Doch im Endeffekt können wir gemeinsam für die ArbeitnehmerInnen viel bessere Ergebnisse erzielen, weil wir gemeinsam einfach stärker sind", erklärt dazu Betriebsrat Kiegler.

Die Vorreiter: Franz Bittner, Vorsitzender der gewerkschaft Druck und Papier, ist stolz, daß die "Setzer, Drucker und Schriftgiesser" schon 1848 den ersten KV abgeschlossen haben

 

Interview

Franz Traxler ist Professor am Institut für Wirtschaftssoziologie an der Universität Wien. Sein Spezialgebiet sind Kollektivverträge und Arbeitsbeziehungen im internationalen Vergleich.

Solidarität: Wie liegt das österreichische Kollektivvertragssystem im internationalen Vergleich?
Traxler: 98 Prozent der österreichischen Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft stehen unter Geltung eines Kollektivvertrages. Damit hat Österreich die höchste ãDeckungsrate" in der EU. Gefolgt von Belgien, Frankreich und Finnland, mit über 90 Prozent. Sehr niedrig ist dieser Wert in Großbritannien oder den USA, wo nur für 13 Prozent der ArbeitnehmerInnen in der Privatwirtschaft Kollektivverträge gelten.

Solidarität: Wie wirken sich Kollektivverträge auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Landes aus?
Traxler: Das soziale Ungleichgewicht ist in Ländern ohne bedeutende Kollektivverträge sehr groß. Die Schwächeren werden noch schwächer und das Betriebsklima wird konflikthafter und konfrontativer. Außerdem sinkt die Loyalität zum Unternehmen. Aktuelle Beispiele wie etwa General Motors zeigen den Nachteil der daraus entstehenden ãAlles oder Nichts"-Politik. Wenn sich aber eine koordinierte Lohnpolitik insgesamt an den wirtschaftlichen Gegebenheiten orientiert, besonders an der Inflation und an der Produktivität, so wie in Österreich, haben längerfristig alle Beteiligten Vorteile. Die Orientierung an der Inflation sichert reale Kaufkraftzuwächse, die Berücksichtigung der Lohnstückkosten garantiert die Konkurrenzfähigkeit der Betriebe und beides wiederum sichert Arbeitsplätze.

Solidarität: Es wird doch immer behauptet, daß unsere Lohnstückkosten so hoch sind?
Traxler: Im internationalen Vergleich haben sich die Lohnstückkosten in Österreich in den vergangenen zwei Jahrzehnten viel vorsichtiger entwickelt als in anderen Ländern. Das ist nicht zuletzt auch auf die Kollektivvertragsverhandlungen zurückzuführen.

Solidarität: Was sind die Vor- und Nachteile einer staatlichen Mindestlohnregelung?
Traxler: Ein gesetzlicher Mindestlohn macht nur dann einen Sinn, wenn kein anderes kollektives Netz vorhanden ist, wie zum Beispiel in den USA. Der große Nachteil für die Arbeitnehmer ist, daß die Erhöhung eines gesetzlichen Mindestlohnes sehr schwerfällig abläuft. Dagegen haben wir in Österreich einen für alle Beteiligten höchst effizienten Koordinationsmodus für die Lohnabschlüsse gefunden. Die dafür nötigen Verhandlungen sind sehr aufwendig und erfordern von allen Beteiligten ein außerordentlich hohes Fachwissen.


Solidarität: Es tauchen immer wieder Forderungen auf, die KV-Verhandlungen auf Firmenebene zu führen. Welche Auswirkungen hätte das?
Traxler: In Ländern, in denen von Branchen- auf Firmenkollektivverträge umgestiegen wurde, sank die Deckungsrate dramatisch. In Großbritannien z.B. von 70 Prozent Ende der 70er Jahre auf 47 Prozent im Jahr 1990. Durch den Verlust der Koordinierung in der Lohnpolitik würde längerfristig ein volkswirtschaftlicher Nachteil entstehen. Darüber hinaus wird der Kollektivvertrag ein Thema der zwischenbetrieblichen Konkurrenz. In Österreich wäre so ein System auch wegen der geringen Firmengrößen unmöglich.

Solidarität: Es gibt ja schon Sozialpartner-Verhandlungen auf EU-Ebene. Wird es bald Europäische Kollektivverträge geben?
Traxler: Europaweite Kollektivverträge machen vielleicht in 50 Jahren Sinn, wenn die Arbeitsbedingungen in der EU homogen sind. Derzeit sind die regionalen Unterschiede zu groß. Absprachen und gemeinsame Schwerpunkte innerhalb der Branchen europaweit sind aber sicherlich sinnvoll. Ebenso wie eine europaweite Koordinierung der Lohnpolitik. Ansätze in diese Richtung gibt es seitens der europäischen Metallgewerkschaft.

Quelle: Solidarität - Die Illustrierte des ÖGB, Oktober 1998