Wahlrecht für Kinder? Politische Bildung und die Mobilisierung der Jugend
Das Buch aus der Reihe Pädagogische Streitschriften" ist so angelegt, dass der Leser eindeutig mit Ja oder Nein zu den Argumenten Stellung nehmen muss, wenn es um die Frage geht, ob eine Senkung bzw. Eliminierung des Wahlalters zu befürworten ist.
Autoren: Hurrelmann K u Schultz T
Verlag: Weinheim Basel Beltz Juventa
Erschienen: 2014
Zum Inhalt
Das Buch aus der Reihe Pädagogische Streitschriften" ist so angelegt, dass der Leser eindeutig mit Ja oder Nein zu den Argumenten Stellung nehmen muss, wenn es um die Frage geht, ob eine Senkung bzw. Eliminierung des Wahlalters zu befürworten ist. Dass Kinder berücksichtigt, ihre Meinung gehört werden soll, steht außer Frage, aber dies auch als Grünes Licht für ein Wahlrecht von Kindern zu werten ist, wird kontrovers behandelt. Das Buch bringt zunächst Beiträge, die für ein Wahlrecht der Kinder eintreten, dann folgen ebenso viele Beiträge dagegen. Den Abschluss des Buches bildet ein internes Streitgespräch zwischen den beiden Herausgebern. Dieses soll kurz dargestellt werden.
Hurrelmanns Hauptthese ist, dass Kinder konfrontiert sind mit gesellschaftlichen Fragen. Für ihn ist das Wahlrecht Grundlage der Demokratie, ein Beteiligungsrecht am gesellschaftlichen Prozess. Seine Konklusion ist daher: Kinder sollen sich als Wähler an der Gestaltung des Miteinanders beteiligen . Aus entwicklungspsychologischer Perspektive begründet er die Möglichkeit einer Senkung des Wahlalters mit dem Erreichen von Urteilskraft ab dem 12.Lebensjahr. Diese hält er ausreichend für die Entscheidung in Sachfragen (wie z.B. Meinung zu bestimmten Vorgängen in der EU), während hingegen bei Ermessensfragen die Erfahrung mitzureden hat (z.B. beim Alkoholverbot). Seine Nebenthesen sind: Das Wahlrecht überfordert nicht; die Jugendlichen seien heute früher reif als vor einigen Jahren; schließlich wird auch eingebracht, dass es einen breiten Konsens für mehr Partizipation und Politische Bildung für Kinder und Jugendliche gibt. Kinder interessieren sich, so seine aus der wissenschaftlichen Begleitforschung abgeleitete Meinung, weniger für Kleinigkeiten (z.B. ein Schutzweg an einer bestimmten Stelle), sondern für Gerechtigkeit, Klimawandel etc.
Rohrbach und Pittrich, die aus der Fülle pars pro toto herausgegriffen wurden, unterstützen die Position Hurrelmanns. Ihr Hauptargument ist, dass überall, wo jemand einer Macht ausgesetzt ist, auch eine Mitbestimmung erforderlich ist. Fremdbestimmung fordert Mitbestimmung!
Schultz vertritt folgende Hauptthese: Kinder brauchen Zeit für das Hineinwachsen in Politik und Verantwortung. Er meint, dass den Kindern zu viel zugemutet wird, außerdem ist Demokratie als Lebensform nicht auf Wahl allein fixiert. Seine Konklusion ist: Kinder sind keine Erwachsenen, sie brauchen Probezeiten, Schutz. So müssen Entscheidungen auch hinsichtlich ihres Horizontes gesehen werden: Eine Nahraumentscheidung ist etwas anderes als die Entscheidung über die politischen Herrschaftsverhältnisse. Außerdem sollen Kinder einige Wahlen beobachtet haben und so wichtige Erfahrungen gesammelt haben, bevor sie selbst wählen..
Hoffmann und Lange unterstützen diese Position (auch sie wurden aus der Fülle exemplarisch herausgegriffen). Die Meinung, man dürfe das universelle Recht der Mitbestimmung nicht durch Kriterien einschränken, widerlegen die Autoren dadurch, dass die Rechts- Ausübung auf große Praktikabilitätsprobleme stößt. Da auch die Altersgrenze nicht einschränken dürfe, würde man ein Recht von der Geburt an vertreten.Doch die Lösung der zeitweiligen Vertretung des Kindes durch seine für es wählenden Eltern sei in Wirklichkeit nicht so unproblematisch wie man idealistisch meinen dürfte.
Das Buch bietet somit eine spannungsreiche Kontroverse und lässt keinen Kompromiss zu. So hat auch der Rezensent rasch festgestellt, dass er aufgrund der Lektüre klar Stellung bezogen hat. Aber diese Positionseinnahme ist nicht die Endstation des Denkprozesses. Gerade, weil hier die kompromisslose Kontroverse betont wird, reizt es den Rezensenten in guter hegelianischer Manier die kreative Synthese zu suchen und zu finden: So wäre die partnerschaftliche Einstellung zum Kind, dem man möglichst bald die Mittel in die Hand geben will, über seine Lebensumstände und Randbedingungen, über seine Lebenswelt mitzubestimmen, mit der entwicklungsfördernden Haltung gegenüber dem Kind zu versöhnen, das seine Koordinaten erst entwirft, ausprobiert, korrigiert (und somit keiner "kurzpubertären" Frühverfestigung erliegen muss), das Erfahrungen sammelt, bevor es abstrahierend über Gerechtigkeit etc. befindet oder sich für den Klimawandel verantwortlich fühlt. Die eine Seite könnte der anderen einen adultomorphen bias vorwerfen, d.h. den Fehler, aus Kindern kleine Erwachsene machen zu wollen, die kaum erst dem magischen Denken entronnen schon in einer Diskussionsrunde über die Probleme in Nah-Ost befinden; die andere Seite könnte wieder geneigt sein, tief Luft zu holen, um nicht in einem infantilisierenden Schonklima zu ermatten.
Zwar mag der Krieg der Vater aller Dinge sein, wie Heraklith meinte, aber der Streit ist nur fruchtbar, wenn er immer wieder überwunden wird. Das Design der "Pädagogischen Streitschriften" sollte nicht dazu verführen, diesen Konsens als utopisch anzusehen und den Streit als endgültig! Jeder Leser ist aufgerufen, Beitrag für Beitrag den Synthese- Versuch zu unternehmen: Altersgerechte Mitgestaltung und Mitbestimmung!
!