Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern. Ein Handbuch für Jugendhilfe, Schule und Klinik.
Das Buch ist reichhaltig, gibt sehr viele Impulse und überzeugt die Leserschaft davon, dass Traumapädagogik nicht der angestrengten Suche nach einer Marktlücke entspringt, sondern einen echten Bedarf artikuliert.
Buchtitel: Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern. Ein Handbuch für Jugendhilfe, Schule und Klinik
AutorInnen: Gahleitner S B, Hensel T, Baierl M, Kühn M u Schmid M (Hg)
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen
Erschienen: 2014
Zum Inhalt
"Es besteht kein Zweifel, dass es Kinder gibt, die ihre seelische Belastung an andere weiter geben, sich vom Überdruck entlasten, indem sie andere belasten. Was aber tun? Die Schule ist keine Therapiestätte. Sie kann tiefe Wunden nicht heilen... Aber vergessen wir andererseits die Chancen der Gemeinschaft in der Schule nicht. Unsere Kinder sind Tage, Wochen, Monate, Jahre zusammen- Sie können in dieser Gemeinschaft viel voneinander lernen!" Diese Zeilen schrieb der Rezensent vor fast 10 Jahren in einer Broschüre mit dem Titel " Beziehungstraum(a) und Begegnungsraum. Psychologische Grundlagen zu Missbrauch, Gewalt und Trauma." Das Anliegen des vorliegenden Werkes ist dem Rezensenten daher wohl vertraut. Traumatisierte Kinder und Jugendliche werden relativ rasch von Situationen überwältigt und verfallen dann in einen totalen Rückzug, Totstellreflex oder einen panischen Bewegungssturm. Das Ziel formuliert der Rückendeckeltext konkret folgendermaßen, das Buch "vermittelt psychotraumatologisches Wissen für den pädagogischen Alltag, damit Fachkräfte kompetent handeln und Heranwachsende traumatische Lebensereignisse besser bewältigen können". Diese Zielsetzung hat drei Akzente: 1) kompetente Wissensvermittlung etwa in Form von Psychoedukation, Sensibilisierung für die spezifische Probleme traumatisierter Menschen, frühes Erkennen vonraumatisch bedingten Verhaltensstörungen. Dieses Teilziel ist sehr wichtig einzustufen, es hilft gegen Beziehungsverletzungen aufgrund von Unkenntnis. Und dieses Teilziel ist realistisch; 2) kompetentes Handeln der Fachkräfte - dies wirft Fragen auf: Geht es um eine traumabewusste Modifikation des Erziehungshandelns? Sind damit stützende Maßnahmen zur besseren Bewältigung, Reduzierung oder Vermeidung von Stress gemeint? 3) Heranwachsende, denen mit einer derart hohen Sensibilität begegnet wird, sollen Traumen besser verarbeiten und bewältigen können - es wäre schön, wenn Schule oder Institutionen eine emotional korrigierende Erfahrung vermitteln könnten. Evaluationen betreffend die Erreichung des zweiten und dritten Subziels stehen noch aus, zumindest hat der Rezensent im Buch keine derartigen Angaben entdeckt.
Die Zielsetzung der kompetenten Wissensvermittlung wird aber sehr gut erreicht, das zeigt schon ein Blick auf das differenzierte und umfassende Spektrum von Informationen zum Thema Trauma, von Handlungskonzepten und strukturell organisatorischen Hinweisen. Das Buch gliedert sich in Grundlagen, Beschreibung der pädagogischen Triade (Pädagoge, Adressat, Einrichtung) , Arbeitsfelder und Zielgruppen in Pädagogik, Sozialer Arbeit, Therapie und Medizin sowie bei Sonderbedürfnissen und gibt schließlich Hinweise auf Praxis und Forschung. Einzelne Punkte sind beispielsweise: Grundlagen des neuen Traumaparadigmas, die Psychotraumatologie des Kindes- und Jugendalters, die pädagogische Triade der Traumapädagogik, Struktur- und Prozessmerkmale traumapädagogischer Arbeit, stationäre Jugendhilfe;Traumaspezifische Bedarfe von Kindern und Jugendlichen, traumapädagogische Konzepte in der Schule, Traumasensibilität in der Kinder- und Jugendhilfe, Möglichkeiten der traumasensiblen/-pädagogischen Unterstützung von Pflegefamilien, intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung; traumasensible Familienhilfe ,Hilfen für Eltern traumatisierter Jungen und Mädchen; traumapädagogische Konzepte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie, Traumasensibilität und traumapädagogische Haltung in der forensischen Psychiatrie, Vernetzung von ambulanter Traumapsychotherapie und Traumapädagogik, traumatisierte Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen:zum Auftrag der Pädagogik u. v. a. m.
Aber auch das oben vom Rezensenten benannte zweite Subziel wird plausibel erreichbar: Durch strukturelle Konzepte, durch spezifische pädagogische Haltungen. Einige kurze Beispiele für Impulse:
Die Traumabrille aufsetzen, um die Dynamik der oft rätselhaften Verhaltensweisen zu verstehen. (Seite 61). Sich damit hinein versetzen in die Situation des traumatisierten Kindes, das frühe Beziehungserfahrungen auf die Gegenwart überträgt.
Die Wichtigkeit klarer Regeln und Strukturen, die vor Gewalt schützen, muss von Mitarbeiterinnen internalisiert werden.(Seite 75)
Im schulischen Bereich ist ein Förderplan sehr hilfreich, der Stärken und Interessen, Strategien zur Selbstregulierung etc. neben dem unterrichtlichen Bedarf auflistet (Seite 97)
Eine wichtige Hilfestellung gibt die Tabelle zu den Dimensionen zur Beurteilung des Kindeswohls (Seite 105);
die trauma(sozial)pädagogische Haltung schreibt entsprechend einem systemischen Ansatz traumatisierten Menschen zu, dass sie angemessen auf extreme Situationen reagieren,, ja Spezialisen für die Bewätigung extremer Lebenserfahrungen sind (Seite 146).
Die 7 Einstellungen resilienter Eltern: Optimismus, Akzeptanz, Lösungsorientierung, Verlassen der Opferrolle, Verantwortungsübernahme, Netzwerkorientierung und Zukunftsplanung (Seite 152).
Recht vielversprechend ist auch das dreifache diagnostische Fallverstehen: Klassifikatorische Diagnostik, Biografiediagnostik und Lebensweltdiagnostik (wie sieht es mit der Passung zwischen Subjekt und Kontext aus?); Seite 252ff.
Im Hinblick auf das dritte Subziel (die Traumabewältigung der Heranwachsenden sollten noch stärkere Akzente gesetzt werden (konkrete Schritte für Verhaltens- und Handlungsempfehlungen, die eine korrektive emotionale Erfahrung erleichtern).
Das Buch ist reichhaltig, gibt sehr viele Impulse und überzeugt die Leserschaft davon, dass Traumapädagogik nicht der angestrengten Suche nach einer Marktlücke entspringt, sondern einen echten Bedarf artikuliert: In einer Welt zu leben, die u. a. von gegenseitigem Respekt, von Verlässlichkeit und gewaltloser Konfliktbewältigung geprägt ist!