Nervenheilkunde 6-2015

Die "Nervenheilkunde" hat eine ausgewogene Informationsweise gefunden: Prägnanz, übersichtliche Gliederung, sich in Maßen haltender Schwierigkeitsgrad der Ausdrucksweise und stimulierende Gestaltung!

 Nervenheilkunde. Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung . 6/2015

Herausgeber: Spitzer M
Verlag: Stuttgart: Schattauer
Erschienen: 2015

Zum Inhalt

Schon im Kommentar zur Ausgabe (Seite 411) kommt die Spannung zwischen den Polen Heilung und Lebenserhaltung einerseits und Respekt vor dem Lebensbeendigungswunsch des Patienten andererseits prägnant zum Ausdruck. So meint die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof.Dr. Woopen:" Beihilfe zur Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe. Aber der Arzt kennt den Patienten und seine Situation am besten. Deshalb sollte der Arzt als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.." Und etwas weiter werden zwei wichtige Signale gesetzt: "Um den Arzt zu stärken müsste die Ärzteschaft aber die ärztliche Gewissensentscheidung ausdrücklich anerkennen." Eine organisierte Suizidbeihilfe macht allerdings, so Woopen, unerwünschterweise den Suizid zum Normalfall!

Das ethische Spannungsfeld zeigt sich in der Respektierung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten und der ärztlichen Pflicht zum Gutes-Tun (Benefizienz).  Eine starke Aussage in diesem Zusammenhang lautet:" Und der suizidale Mensch hat Anspruch darauf, dass seiner Suizidalität widersprochen wird" (Seite 412).  Diese Divergenz bildet sich auch in den Beiträgen ab: Zwei Beitragende, Gather und Vollmann, sprechen sich unter bestimmten Bedingungen für die Vereinbarkeit von Engagement für das Leben und Suizidassistenz aus. Ihre Argumentation ist: Es gibt sehr viele Suizide bei selbstbestimmungsunfähigen, psychisch schwer erkrankten Menschen. Es gibt  demgegenüber eine geringe Anzahl von selbstbestimmungsfähigen, schwer bzw. unheilbar Kranken, die Selbsttötungsabsichten äußern. Der Psychiater kann die Selbstbestimmungsfähigkeit beurteilen. Liegt diese nicht vor, dann soll psychiatrisch behandelt werden und der intendierte Suizid unterbunden werden. Andernfalls ist die Berücksichtigung der Selbstbestimmungsfähigkeit auch in Hinsicht auf die Lebensbeendigungsabsicht nicht unethisch.

Dem wird von zwei Autoren, Hohendorf und Bruns, entgegengehalten, dass viele Selbsttötungsabsichten begründet werden mit verloren gegangener Sinnhaftigkeit des Lebens. Hier gleich die Zustimmung zum assistierten Suizid zu geben, entzieht der Gesellschaft ihre Verantwortlichkeit für das Erstellen von sozialen Sinngebungen. Die Selbstbestimmungsfähigkeit ist nicht immer klar gegeben, es besteht keine Unvereinbarkeit von freiverantwortlicher Entscheidung und psychischer Erkrankung. Wohl aber sehen die Autoren Probleme bei der Aufrechterhaltung einer objektiven, neutralen Haltung seitens des Arztes bzw. Therapeuten, Suizidwünsche würden zu einer persönlichen Stellungnahme herausfordern (Seite 439).

Beide Aspekte lassen sich nach Auffassung des Rezensenten vereinen: Auf der einen Seite wird der differenzierte Umgang mit suizidalen Menschen betont und hier das Kriterium der Selbstbestimmungsfähigkeit für ganz wesentlich erachtet - das ist der Standpunkt auf individueller Ebene. Auf der anderen Seite wird an die Gesellschaft appelliert, soziale Sinngebung, Versorgungsangebote zu ermöglichen - das ist der Standpunkt auf sozialer systemischer Ebene.

 Weitere Beiträge befassen sich mit Grundlagen zum Thema Suizidalität, mit einem Appell für eine klare Terminologie, mit der Gesprächsbereitschaft des Psychiaters beim Thema Suizidalität. Ein Artikel (Lindner) schildert die Situation eines suizidal Sterbenden und deutet diese als Erleben oder Nichterleben von Gehaltenwerden. Der Mensch muss erleben, dass er  im Sterben nicht allein gelassen wird und dieser Prozess auch mit Würde ablaufen kann. Wichtig ist die Reflexion des freien Willens und seiner Einschränkungen.

Das Heft enthält noch viele weitere interessante Beiträge aus Forschung und Praxis, erwähnt sei das Parkinson-Forum, die Kasuistik zur Hypothermie unter antipsychotischer Medikation und die Beiträge des Herausgebers zum Thema Denken sowie zur Bedeutung des Wortes.

 Die "Nervenheilkunde" hat eine ausgewogene Informationsweise gefunden: Prägnanz, übersichtliche Gliederung, sich in Maßen haltender Schwierigkeitsgrad der Ausdrucksweise und stimulierende Gestaltung!                

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
02.07.2015
Link
https://edugroup.eu/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/existenz-entwicklung-tod/detail/nervenheilkunde-6-2015.html
Kostenpflichtig
nein