Trauer in Träumen.
Traumbilder können helfen und heilen
Das Buch bewirkt eine innige Begegnung mit den Existenzerfahrungen des Leids, insbesondere der Trauer, und mit den rätselhaften Botschaften der Träume...
Buchtitel: Trauer in Träumen. Traumbilder können helfen und heilen
Reihe: Edition Leidfaden
AutorInnen: Müller W P
Verlag: Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2014
Zum Inhalt
Der Autor ist an Volkshochschulen und Bildungswerken tätig, in seinem Spezialgebiet der Traumdeutung verbindet er tiefenpsychologisches und spirituelles Erfahrungswissen. Zunächst hebt Müller die Leistung des Traums hervor: Über Träume greift das Unbewusste ergänzend, korrigierend und anregend ein. Der Autor führt die Zugangsweise von Freud und von Jung zu Träumen aus: bei ersterem sieht er die Wichtigkeit der Berücksichtigung der Biographie für das Verstehen der frei fließenden Assoziationen, bei zweitem den Gewinn an Bedeutungsfülle durch Verbindung des Traumes mit dem kollektiven Unbewussten. Müller weist auf die Struktur des Unbewussten bzw. Strukturierung seiner Inhalte hin, dies tut er auf so beeindruckende Weise, dass hier ein wörtliches Zitat erfolgen muss:" Die Inhalte des kollektiven Unbewussten sind Denk-, Reaktions-, Fühlmuster, Anordnungssysteme, Erfahrungsgitter, Erlebnissummen, Grundtypen von Erkenntnissen in Symbolform, sind Kraftbilder, Traditionen, Psychostrukturen, Patterns. Sie sind Erz-Typen, das heißt Archetypen." ( Seite 23). Näher an die gegenwärtige Ausdrucksweise käme sicherlich die Bezeichnung "Urbild" für Archetypus. Müller verbindet Archetypus originell mit dem Konzept des morphogenetischen Feldes von Rupert Sheldrake. Man könnte sicherlich auch eine reizvolle Beziehung herstellen zwischen Archetyp und dem Begriff der Matrix, wie er in Gruppentherapie bzw. Gruppenpsychotherapie eingesetzt wird. Müller sieht in den Archetypen die Hauptsymbolssprache jedes Traums und meint, bei ausreichender Kenntnis aller Archetypen könnte man jeden Traum deuten.(Demgegenüber würde der Rezensent die Deutungshoheit des Träumers betonen). Während der Autor mit dem Begriff "Archetyp" recht offen umgeht und eine Fülle derartiger Urbilder formuliert, ist dem Rezensenten die eher selektive Haltung vertrauter, bei der besonders reichhaltige, grundlegende Symbole wie "der Weise", "der ewige Jüngling", "die Kriegerin", "die große Mutter", "das göttliche Kind", "die Begegnung Vater-Sohn" "der Weg", "der Baum" als Archetypen hervor gehoben werden. Jung selbst hat betont, dass Archetypen Formen sind und nicht Inhalte. Man kann daher auch typische Lebenssituationen archetypisch reflektieren.
Der Abschnitt "Praktische Traumbeispiele: Verschiedene Trauergründe und unterschiedliche Trauerrrekationen" ist ein Glanzstück dieses Buches. Der Autor findet eindrucksvolle Beispiele für intensive Lebenssituationen wie etwa den Weltschmerz von Gerhart Hauptmann bzw. Ralph Waldo Emerson, die unglückliche Liebe von Bettina von Arnim zu Goethe, das Eingesperrtsein und Ausgesperrtheit von Heinrich Heine und Carl Spitteler u. v. a. m. Immer verbindet der Autor kurze biographische bzw. situative Notizen mit Träumen der skizzierten Personen und schließt daran seine deutenden, eigentlich andeutenden Kommentare - und das ist einer sehr schönen, bildhaften, meist besinnlichen Sprache. Trauer um Ungelebtes, Trauer über die Demenz eine Angehörigen, ein neuer Platz für Verstorbene sind weitere Beispiele für die Themen, die dieses Kapitel aufgreift.
Der nächste Abschnitt widmet sich "sieben goldenen Regeln für die Praxis des Traumbegleiters", darunter befindet sich auch die Frage, ob bei der Symboldeutung des Traums der Weg von Freud oder Jung beschritten werden soll, die beide ohnehin meist konvergieren. Hier kann eingewendet werden, dass diese Konvergenz überhaupt nicht stattfinden muss, der Mensch hat viele Facetten, wie ein Diamant hat der Mensch viele Flächen, die unter entsprechender Beleuchtung zu funkeln beginnen. So kann die Deutung nach Freud und die nach Jung Verschiedenes ans Licht bringen. (In einer weiteren Auflage könnte auch die Deutung des Traums nach Alfred Adler ergänzend angefügt werden: Die Deutung des Traums im Zusammenhang mit dem Lebensstil und den Leitlinien des Menschen; interessant wäre - gerade in Hinsicht auf die existentielle Thematik - die daseinsanalytische Deutung etwa nach Medard Boss). Wertvolle Einsichten vermittelt der Autor in Hinsicht auf die Funktion des Albtraums (dieser meldet Unerledigtes).
Den Abschluss bildet ein Archetypen-Lexikon zu den Themen Trauer, Verlust, Schmerz, Zusammenleben. Obwohl der Autor vielfach beteuert, dass es sich um Vorschläge der Symboldeutung ohne Anspruch auf Vollständigkeit und auch hier nur auf Tod und Trauer etc. fokussiert, steht der Rezensent diesem "Lexikon" verhalten gegenüber. Dies einerseits, weil die Festbindung auf einen Deutungsaspekt der Ambiguität des Symbols bzw. der vom Autor selbst einleitend festgestellten Dialektik der Symbole (es gibt gegensätzliche Deutungsmöglichkeiten) widerspricht und - die Macht des Beispiels - in seiner Einseitigkeit eingeprägt werden kann. Andererseits sind die vorgeschlagenen Deutungen sehr verkürzt, z.B. wird nicht unterschieden zwischen (dem positiv konnotierten) Alleinsein und der (leidvollen) Einsamkeit; Auto - eigentlich abgeleitet aus griechisch autos= selbst - wird auf den körperlichen Aspekt und nicht den mentalen Aspekt hin gedeutet (hier dominiert beim Autor das Material des Autos anstatt das "Selbst"), die Farbe Braun wird der Mutter Erde zugeordnet und Trauer, Depression, großen Problemen. Es fehlt die Bedeutung der (meist erholsam gemeinten) Regression. Ein weiteres Beispiel mag genügen: Taucht als Trauminhalt ein Fremder auf, so sagt der Autor: "Hat als Archetyp keine gute Bedeutung. Meint latente Gefahr oder Aggression" (Seite 115). Hier könnte man den Begriff des Schattens einbringen: Der Traum vom Fremden zeigt dann eine Begegnung mit dem Schatten an, mit den ungel(i)ebten Seelenanteilen..Die angeführten Vieldeutigkeiten und Komplexitäten machen darauf aufmerksam, Trauerbegleitung mittels Traumanalysen eher dem darin ausgebildeten Therapeuten zu überlassen und die nichtprofessionelle Hilfe auf das aufmerksame Zuhören zu beschränken. Dieses kann - durch die Lektüre des Buches bereichert - sehr konstruktive Wirkung zeigen.
Das Buch bewirkt eine innige Begegnung mit den Existenzerfahrungen des Leids, insbesondere der Trauer, und mit den rätselhaften Botschaften der Träume. Müllers Verdienst ist es, die wertvolle Hilfe des Unbewussten, das sich über den Traum mitteilt, überzeugend darzulegen und seine Nutzung zu erleichtern. Der Autor bringt eindrucksvolle Traumbeispiele, die er behutsam interpretiert. Seine bildhafte, nachwirkende, facettenreiche, oft poetische Sprache intensiviert das Leseerlebnis!