Strukturbezogene Psychotherapie. Leitfaden zur psychodynamischen Therapie struktureller Störungen.

Die praxisrelevanten Ausführungen, insbesondere das Manual, haben eine Überzeugungskraft, die nachhaltig in den Therapiealltag hinein wirkt! Das Buch gehört in die Bibliothek jedes Therapeuten!


AutorInnen: Rudolf G. Unter Mitarbeit von Horn H.
Mit einem Geleitwort von Cierpka M.
Verlag: Schattauer Stuttgart
Erschienen: 2014 3.Aufl.

Zum Inhalt

Es gibt Patienten, die mit der klassischen Technik der Psychoanalyse nur schwer und eingeschränkt behandelbar sind, weil ihr Funktionsniveau durch "reifere" Bearbeitungen wie Deutung von Übertragungen oder Widerstand  überfordert wird. Diese Patienten haben psychische Funktionen, mit denen sie ihr Selbst organisieren und ihre Beziehungen zu inneren und äußeren Objekten regulieren können, nur sehr eingeschränkt zur Verfügung, sie sind strukturschwach. Ihre Behandlung fordert weniger die Deutungskunst des Therapeuten, oder seine unterstützende Begleitung  bei Explorationen, sondern (neben Containen und Spiegeln) orientierungsförderliche Antworten, damit strukturbildende Entwicklungen  stattfinden können.

Davon handelt dieses Buch. Im ersten Abschnitt wird einleitend auf strukturelle Störungen und strukturbezogene Psychotherapie hingewiesen.  Abschnitt 2 beschreibt die Entwicklungspsychologie der Struktur. "Strukturelle Störungen werden somit als Entwicklungsdefizite verstanden, nicht als Internalisierung konflikthafter Beziehungserfahrungen,  weil solche Vorgänge in den genannten frühen Lebensabschnitten noch nicht möglich sind." (Seite 24f).

Eine überragende Position haben für den Autor die Emotionen, der Abschnitt 3 beschreibt die Bedeutung der Emotionen für die Kommunikation, das Situationsverständnis, für Kognitionen, Motivationen etc.  Emotionen helfen bei  der Beziehungsregulierung; wenn sie in adäquater Weise zur Verfügung stehen, ist dies als wesentliche strukturelle Fähigkeit anzusehen (Seite 50).

Im Abschnitt 4 werden strukturelle Störungen erklärt, im darauffolgenden Abschnitt werden die Schwierigkeiten der Behandlung struktureller Störungen im psychoanalytischen Rahmen dargestellt.

Ein Herzstück des Buches ist das ausführliche, differenzierte und sehr praxistaugliche Manual im 6. Abschnitt. Der Therapeut stellt seine reiferen Funktionen zur Verfügung z.B. bei der Emotionsregulierung. Das Manual bietet auch Themenblöcke für die therapeutische Arbeit an. Das Manual beschreibt außerdem  Förderungen struktureller Fähigkeiten durch die Therapie und gibt Hinweise über Evaluationen der Therapiefortschritte. Dieser Leitfaden ist eine  hervorragende Hilfe für Therapeuten, die sich der  schwierigen Therapie von Strukturstörungen widmen wollen!

Im Abschnitt 7 werden klinische Bilder und ihre Behandlungen schematisiert, im darauf folgenden Abschnitt geht es um gesellschaftliche Aspekte von strukturellen Störungen: Die Auflösung von geschlechtsbezogenen Rollenmustern, von Erwachsenenwelt und Kinderwelt, von wichtigen und unwichtigen Informationen usw. trägt zur Destrukturierung bei.

Die beiden abschließenden Abschnitte bringen  diagnostische Instrumente  und Literaturhinweise.

Einige kleine ausgewählte Diskussionsanstöße seien gestattet, mehr als nützliches Feedback denn als Kritik aufzufassen.

1) Amüsant wirkt die Übernahme computertechnischer Begriffe in die Therapie: Auf Seite 33 wird auf die große Bedeutung der Mimik als Interface (Hervorhebung vom Rez.) zwischen Innen und Außen hingewiesen.
Auf Seite 34 wird angemerkt, dass emotionale Erfahrungen in die aktuelle Beziehungen eingespeist (Hervorhebung vom Rez.)  werden - zugleich wird aber das Sender-Empfänger-Modell als zu mechanistisch bezeichnet.

2) Bei der Funktionenbeschreibung auf Seite 55ff  könnte neben Wahrnehmungs- und Beziehungsregulationsfähigkeiten auch die Qualität der geistigen und materiellen Produktionen einbezogen werden.  Die Produktionsqualität ist ein wertvolles Strukturdiagnostikum. Ein kleiner Hinweis darauf ist auf Seite 64 gegeben: Die Rede ist von deutlich erkennbaren und von unscharfen, schwer erkennbaren Konflikten . Auf Seite 38 wird vom Adult  Attachment Interview gesprochen und dabei auch die Kohärenz der sprachlichen Aussagen berücksichtigt. (Ein einleuchtendes Beispiel für Produktionsqualität bietet das vorliegende Buch mit der hohen Präzision, Verständlichkeit und Klarheit, mit der  hochkomplexe Inhalte beschrieben und an den Leser herangetragen werden).

3) Für den Autor haben die Emotionen  eindeutig die wichtigste Rolle.  Allenfalls könnte eine Neubewertung der Affekte zu deren Deaktivierung beitragen (Seite 48).  Es wäre interessant, die Argumente für die tragende Rolle der Emotionen zu konfrontieren mit der Auffassung der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie nach A. Ellis, derzufolge - in klassischer stoischer Weise - die Überzeugungen und Situationsdeutungen darüber entscheiden, welche Gefühle aktiviert werden.

4)  Auf Seite 73f wird das Vorgehen, durch Fragen an den Patienten dessen Strukturiertheit zu erkunden, gegen den Vorwurf verteidigt, dass diese Fragen die Patienten überfordern. Dies sei nicht der Fall, weil die Fachsprache in Alltagssprache übersetzt werde,  keine konflikthaften bzw. wunden Punkte angesprochen würden. Eine andere Überlegung könnte allerdings erfolgen:  Auf Seite 216 bis 221 wird eine Selbsteinschätzung struktureller Kompetenzen (SSK) des Autors vorgestellt. Das ist ein ganz ausgezeichnetes und hilfreiches Instrument für den Therapeuten. Aber man könnte überlegen, inwieweit teilweise eine Problematik von Ebene und Metaebene  (wie im bekannten Beispiel "Ein Kreter sagt: Alle Kreter lügen! ) vorliegt. Die Frage 1.1 lautet, ob es einem möglich ist, in das Innere hineinzuschauen und mitzukriegen, was in einem vorgeht (Gedanken, Gefühle ...). Die Antwortmöglichkeiten reichen von "gelingt mir gut" bis  "kann ich nicht einschätzen". Wenn ein Strukturschwacher  diese letzte Antwortmöglichkeit ankreuzt, dann hat er ein wichtiges Strukturdefizitmerkmal  richtig beurteilt (auf der Metaebene). Damit wird aber die Aussage auf der  Aussagen-Ebene problematisch.

5)  Der Autor problematisiert die Technik des Deutens bei Strukturschwachen. Der Therapeut würde in die Rolle des allwissenden Romanautors  (Seite 95f) versetzt,  der Patient  würde verstärkt Ohnmacht erleben.  Man wolle - Seite  99 - durch Denken klären, was für einen anderen Menschen die Wahrheit sei.  Ist somit für den Autor Wahrheit ein relativistisches Thema, jeder konstruiert seine Wahrheit?  Jede Deutung ist ein Mythos (Seite 95)?  Andererseits muss es etwas wie eine objektivierbare Realität  geben, sonst wäre eine Aussage wie folgende widersprüchlich: " ...die Fähigkeit, .. die äußere Welt realitätsgerecht..wahrzunehmen." (Seite 57).

 Die Strukturbezogene Psychotherapie, die der Autor entwickelt hat,  ist eine wichtige Erweiterung der therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten! Sie ermöglicht die Therapie von Strukturstörungen bzw. -defiziten. Der Autor stellt die komplexe Thematik in einer wohltuend verständlichen, klaren Sprache dar.  Die praxisrelevanten Ausführungen, insbesondere das Manual, haben eine Überzeugungskraft, die nachhaltig in den Therapiealltag hinein wirkt!   Das Buch gehört in die Bibliothek jedes Therapeuten!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
28.12.2014
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/strukturbezogene-psychotherapie-leitfaden-zur-psychodynamischen-therapie-struktureller-stoerungen.html
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