Medizin ohne Maß? Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit

Medizin ohne Maß? Maio zeigt nicht nur die Berechtigung dieser Systemdiagnose , sondern auch besonnene Wege zu einer maßvollen Einstellung, die klugen Realitätssinn, innere Ruhe und Handlungsbereitschaft aufweist.

Autor: Maio G. 
Verlag: Trias in MVS Medizinverlage Stuttgart
Erschienen: 2014 

Zum Inhalt

 

Zwar kommt es auf den Kern an und nicht auf die Hülle, aber so viel darf doch gesagt werden: das Buch ist ein Beispiel für gelungene Produktästhetik,  mit einem Umschlag in dezenten Farben, mit einem kräftig roten Einlegeband und  mit einer  Druckgestaltung, die Informationsdichte mit leserfreundlicher  Gliederung verbindet.  Wie ist der Inhalt gestaltet?  Oder genauer:  Wie besonnen geht der Autor mit einer Ethik der Besonnenheit um?  

Als Beispiel kann das Kapitel  4 Gesundheit als Pflicht ausgewählt werden. Es geht um ein neues Paradigma in der Medizin: Die Eigenverantwortung. Der Patient ist nicht mehr passiver Empfänger der ärztlichen Anweisungen, sondern "Akteur, der sich in Eigeninitiative die notwendigen Informationen und Angebote einholt, die für die Bewältigung seiner  Gesundheitsstörung nötig sind." (Seite 105). Dazu gehört eine umfassende Gesundheitskompetenz, d.i. die Fähigkeit, für sich selbst gesundheitsförderliche Entscheidungen zu treffen. Damit dies aber möglich ist, muss  der Einzelne empowered, d.h. ermächtigt werden, die Verantwortung für sich zu übernehmen. Diese Förderung zieht allerdings eine Forderung nach sich: Der Einzelne wird zur Gesundheitserhaltung verpflichtet - im Gegenzug kann sich der Staat aus seiner Verantwortung zurückziehen.    Der mündige Patient ist sich selbst überlassen.  Was nun kommt, demonstriert die Besonnenheit, die Sophrosyne auf ganz überzeugende Weise. Anstelle eines Jubelschreies über die Emanzipation des einzelnen Gesundheitssouveräns, wendet der Autor nun ein, dass es Grenzen der Selbstverantwortung gibt.  Es existiert ein Präventions-Paradoxon:  Die Menschen, die aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen  oder auch durch Mangel an inneren Ressourcen benachteiligt sind, haben oft keinen Zugang zu den Präventionsmaßnahmen. Es droht eine Entzweiung der Gesellschaft in zu würdigende Gesunde und zu sanktionierende Kranke.

Nicht weit ab von der Gesunderhaltungspflicht liegt  der Gedanke, Krankheit als Schuld, als eigenes Versagen zu betrachten:  "Wir machen aus einem Hilfsbedürftigen einen `Normverletzer` und sorgen auf diese Weise für eine doppelte Stigmatisierung des Kranken." (Seite 114).  Ein Maßhalten  in der Eigenverantwortung ist nötig, denn wir brauchen einander:  "Der Kult der Eigenverantwortung lässt diesen gemeinschaftsorientierten Bezugsrahmen immer brüchiger werden und treibt viele Menschen in eine Atmosphäre der Bedrohung und der Angst, nämlich der Angst vor sozialer Kälte." (Seite 121). "Eigenverantwortung ist richtig und wichtig, aber sie funktioniert nur dann, wenn sie an eine Gemeinwohlorientierung gekoppelt wird." (Seite 116) Grundvertrauen, erfahrene Solidarität  sind notwendig, es bedarf einer Grundempfindung, dass es sich lohnt, in dieser Gesellschaft zu leben, meint der Autor(ebd). Der Rezensent möchte dazu ergänzen, dass die Begriffsanalyse von "Verantwortung" schon aufzeigt: Wir antworten uns reflektierend selbst, aber wir antworten auch unseren Mitmenschen. Verantwortung als ausschließlich rückbezügliche Eigenzuwendung zu verstehen, amputiert  das Dialogische der Verantwortung, diese ist reflexiv, aber auch reziprok. Der entsolidarisierend missbrauchte Begriff der Eigenverantwortung  beschreibt die Binnenatmosphäre einer Leibnizschen Monade, aber nicht den lebendigen Austausch zwischen einem Ich und einem Du oder Wir. Maio bringt den Begriff der Sorge ein (ohne expliziten Hinweis auf Heidegger), die Sorge füreinander ist die notwendige kontempläre Forderung.

Aus Platzgründen seien die Fragestellungen, auf die dieses Buch eingeht, nur angeführt:  Die Reproduktionsmedizin,  das Kind als Produkt, entpersonalisierte Elternschaft, Familienplanung auf Eis; aber auch das Kind als Gabe und Geheimnis.  Weiter die Probleme der Pränataldiagnostik, die Frage der Abtreibung  (hier bedauert der Rezensent, dass Maio mit seinem ausgewogenen Zugang nicht auch Problemen nachspürt, die die Konflikte schwangerer Frauen in allen anderen Situationen zum Thema machen, während sich Maio auf die Frage der Behinderung konzentriert. Wie sieht es mit einer Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung aus? Wie steht der Autor zu den Fragen, die das von J. J. Thomson entwickelte Gedankenexperiment zum  "bewusstlosen Geiger" aufwirft- nämlich die Eigenverfügung über den Körper?)

 Ein weiteres Kapitel befasst sich mit dem Drang oder Zwang, das gute Leben und sich selbst immer noch und noch zu optimieren, noch schöner, besser, leistungsfähiger zu sein. Weitere Themen sind Fragen der Transplantationsmedizin, die Würdigung des Alters als eigener wertvoller Bereich. Kapitel 7 kritisiert die Tendenz, Formulare als Gesprächsersatz fungieren zu lassen.

 Das letzte Kapitel bezieht sich auf das Sterben, u. a. auch die aktive Sterbehilfe als ethische Resignation - hier würde sich der Rezensent  vom Autor eine eingehende Bearbeitung wünschen: Dass bei Schmerzen, schwersten Einschränkungen argumentiert wird, die Unerträglichkeit des Leidens sei eine subjektive Bewertung und dementsprechend bearbeitbar  -wie kommt diese Prämisse zustande? Steckt hinter der Relativierung des Subjektiven  ein versteckter Objektivismus?  "Aufgabe gerade der heilenden Berufe müsste es doch sein, in diesen schwierigen Situationen allen Widrigkeiten zum Trotz Perspektiven aufzuzeigen, und seien sie noch so klein." (Seite 178) - Jeder Helfer nun ein Logotherapeut, ist das nicht eine unmäßige Forderung? Das Leben dürfe nicht  aktiv beendet werden, weil das Leben ja nicht selbst gemacht wurde, sondern geschenkt wurde - wie ist das zu verstehen: darf man über ein Geschenk nicht frei  verfügen? Warum nicht?  Dass man mit den Leidenden daran arbeiten solle, Sinn in ihrem schmerzvollen oder leidvollen  Zustand zu finden - was durch Assimilation nicht mehr bewältigbar ist, nicht mehr zum Eigenen gemacht werden kann, wird  es nun durch Anpassung, Loslassen, Akkommodationsforderung  angepeilt?  Das alles wirkt besänftigend,  nicht unvoreingenommen, die Argumentation überzeugt  (noch) nicht.

Auf Seite 200f plädiert der Autor dafür, dass  der Mensch das Maß nicht einfach in seiner Natur findet, sondern seine Natur  überstiegen werden muss: "Wenn ... manchmal  der Vorschlag gemacht wird, der Mensch solle zu seiner Natur zurückfinden, so ist dieser Vorschlag nicht wirklich durchdacht."  Der Autor bringt zwei Begriffsdeutungen zusammen: Natur als  biologische Gegebenheit  und Natur als Wesen.  Zur Wesens-Natur gehört  für Maio das Transzendieren der biologischen Natur durch Mittel der  Vernunft.  Dass viele alte Menschen plötzlich intensive, nicht-reflexive  Beziehungen zur Umwelt aufbauen, in der Natur sich erden, daraus Trost beziehen, dass alles aufgehoben ist im Sein -  all dies ist eine psychologische Erfahrung, die berücksichtigt werden müsste .

Maios  Buch ist wichtig und wertvoll:  Es gibt viele Orientierungsimpulse , es gibt aber auch Anstöße zum Diskutieren, wie die obigen Beispiele zeigen. Medizin ohne Maß?  Maio zeigt nicht nur die Berechtigung  dieser Systemdiagnose , sondern auch besonnene Wege  zu  einer maßvollen Einstellung, die klugen Realitätssinn, innere Ruhe und Handlungsbereitschaft aufweist.   Das Buch enthält viele Kostbarkeiten, sei es die Würdigung des Alters  und seiner Wesentlichkeitsorientierung als Lernmodell für die Gesellschaft  jenseits des Fitnessimperativs, sei es  die Chance innerer Heilkraft, mit der sich der Mensch "nicht einfach der Krankheit ausgeliefert fühlt, sondern auch im Kranksein seine Ressourcen erkennt, das Nicht-Gewünschte auf seine Weise zu überwinden. Und diese Weise kann eben nur eine innere , eine geistige Weise sein." (206). Das Buch geht nicht nur Mediziner an, sondern jeden, der sich mit dem Menschsein in Krankheit und Grenzsituationen  befasst!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
08.09.2014
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/medizin-ohne-mass-vom-diktat-des-machbaren-zu-einer-ethik-der-besonnenheit.html
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