Lernfeld: Persönlichkeit. Körperorientierte Entspannungs- und Konzentrations-Schulung. K.E.K.S.

Das Buch ist dicht geschrieben, hat eine Fülle von Anregungen parat und der Autor hat auch den Mut, über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Empirie hinaus zu gehen und seine eigene Erfahrung einzubringen. Dazu kommt, dass seine Analyse der derzeitigen Gesellschaftsentwicklung zutrifft.

 (2014): Lernfeld: Persönlichkeit. Körperorientierte Entspannungs- und Konzentrations-Schulung. K.E.K.S.
Autor: Soth J
Verlag: Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2014

Zum Inhalt

 Der Autor unterrichtet an einem Gymnasium Kunst, Religion und K.E.K.S. , d.h.  Körperorientierte Entspannungs- und Konzentrations-Schulung.  "Er hat die Methode der körperbasierten Achtsamkeits-Schulung  auf der Basis jahrelanger eigener Meditationspraxis und ebenfalls bereits eingeübter Erfahrung in der Arbeit mit Kindern in der Schule" (Seite 9) entwickelt, meint sein Mentor v. Brück im Vorwort. Diese spezifische Verbindung von Pädagogik und Meditation gießt der Autor in vier Kapitel: a) Pädagogische Grundlegung (hier geht es um das Menschenbild, die nähere Erklärung zu K.E.K.S., Begründung einer Konzentrationsschulung, Konsequenzen aus der Hirnforschung,  Wahrnehmungs- und Achtsamkeitsschulung), b)  Erfahrungsbericht (der auch ein Curriculum für die 5. Jahrgangsstufe enthält), c) Anleitung zur Praxis (mit Yoga-Übungen, Partnerübungen, Ritualen u. v. a. m. ) und d) Zukunftsaussichten (inklusive Lehrerausbildung). Vielem kann der Rezensent zustimmen, ebenfalls aber Vieles ist zu diskutieren! Am besten eignet sich ein Streifzug durch das Buch, um die verschiedenen Diskussionsansätze, aber auch die unumstrittenen Positiva zu demonstrieren.

Der Autor konstatiert eine Zunahme von Verhaltens- und Lernstörungen in den letzten 10 Jahren. Das war der Anlass für das Konzept der Körperorientierten Entspannungs- und Konzentrations-Schulung, abgekürzt K.E.K.S.(Seite 12f)  Der Autor berichtet nicht ohne Stolz, dass es ihm gelungen ist,  K.E.K.S. als Pflichtfach an seiner Schule einzuführen. (Ebd.) Die Problematik einer Entspannung als Unterrichtsfach mit Teilnahme-Pflicht wird nicht aufgegriffen. Das betrifft noch nicht einmal die Frage der Leistungs- und Mitarbeitsbeurteilung, sondern v.a. die Frage, welche Gefühle auf den jeweiligen Lehrer übertragen werden, ob sich diese innere Einstellung mit Entspannungsanweisungen des Lehrers verbinden lässt.


 Der Autor sagt mit Recht, dass Zerstreuung und Flucht vor sich selbst den Reifungs- und Personwerdungsprozess verhindern (Seite 18). Demgegenüber soll K.E.K.S.  durch die Körperorientierung, durch Entspannung und Konzentration helfen, die eigene Mitte zu finden. Daher ergibt sich auch die kritische Beurteilung des Autors gegenüber dem Trend, alles in Kompetenzen zu fassen. Denn einzelne Kompetenzen  seien  abgekoppelt vom Ziel der Bildungstradition,  Personwerdung in sozialer Verantwortung (Seite 15).  Inhalte und Wissensbereiche  seien beliebig und austauschbar.

Der Anspruch von K.E.K.S. ist groß: Es sollen in einem offenen Raum in der Schule Begegnungen von Schülern mit Lehrern möglich sein und Gespräche über  Sinnfindung, Ethik, Ängste, Lebenskunst und über  Sehnsüchte geführt werden können.  Diese Vertrauensbasis wäre außergewöhnlich und ist kaum generell voraussetzbar, sie kann z.B. durch Leistungsprobleme im jeweiligen Fach belastet sein oder durch negative Erfahrungen.  Deshalb sind  nicht  durch andere Unterrichtserfahrungen der Schüler vorbelastete Beratungslehrer/innen oft eine bessere Alternative. Was jeder Lehrer im eigenen Bereich tun kann, ist, für ein wertschätzendes Klima zu sorgen. 

Das Mensch-Sein wird gesehen als Person-Sein, wobei  Person als Substanz verstanden wird (hier wird der Aspekt der Eigenständigkeit betont), aber auch als Existenz (eigentlich meint Soth Koexistenz, im Dialog mit anderen stehend) und wobei eine Person-Zentrierung betont wird, die die beiden vorgenannten Aspekte miteinander realisiert. Kurz zusammengefasst: Eigenständigkeit und Beziehung werden miteinander in einem personorientierten Zugang gefördert.  Dass  durch eine umfassende dialogische Haltung aber der Pädagoge "kongruent mit sich selbst und somit ununterbrochen dialogfähig" bleibe (Seite 25)ist eine Forderung, die selbst Buber nicht erhebt. Wie der Rezensent in seiner Dissertation über Martin Buber zeigen konnte, bedarf es immer beider Grundhaltungen: des begegnenden  Ich-und-Du-Verhältnisses und des beschreibenden Ich-und-Es-Verhältnisses, die einander abwechseln. Niemand kann ununterbrochen dialogfähig sein, zwischendurch muss beobachtet, beschrieben, bewertet, organisiert etc. werden.

 Der personzentrierte Zugang hat außerdem,  meint der Rezensent , sein Spezifikum nicht in der Realisierung von Person als Substanz und Ko-Existenz (Eigenständigkeit und Beziehung streben alle Förderprogramme für Persönlichkeitsentwicklung und Therapieverfahren an), sondern in der therapeutischen, pädagogischen Abstinenz betreffend von außen kommenden Deutungen und Interpretationen zugunsten einer eigenständigen Symbolisierung des Erlebten und Erlebens. Diese angestrebte, wenn auch nicht gänzlich realisierbare Ideologiefreiheit wird K.E.K.S. nicht beanspruchen können und zwar aus folgenden Gründen:

a)      Es werden Annahmen ("Erfahrungen aller Weisheitslehrer") eingeführt, die nicht unmittelbar zugängig sind, immerhin werden diese Annahmen aber transparent gemacht, was positiv angemerkt werden muss. Zur Grundlegung des Konzepts K.E.K.S. gehört eine besondere Anthropologie, nämlich die vier Dimensionen personaler Ganzheit: 1. der aus Energie bestehende  durchgeistigte Körper, 2. das individuelle Unterbewusstsein (leider wird die nicht mehr gebräuchliche Raummetapher-Bezeichnung Unter-Bewusstsein statt Unbewusstes verwendet), 3. der über das Selbst hinaus greifende Geist und 4.  das überseiende Nichts (Seite 27 bis 32). Diese Grundlegung können Kinder, die ja keine Jahrzehnte lange Meditation hinter sich haben, nur glauben. Es handelt sich um eine Meinung, diese kann eine Ideologie  oder ein mögliches  Erfahrungswissen sein, aber die Kinder und Jugendlichen können das nicht entscheiden. Sollten sie die Lehre einfach übernehmen müssen? Andererseits: Darf man nicht doch auch über Erfahrungen reden, darf man nicht vom Gipfel reden, nur weil die Dialogpartner noch nicht so weit sind? Wo sind die Grenzen?

b)      Als Beweis für die Dignität des Konzepts wird argumentiert : "Fast alle  der hier angeführten Inhalte und Ziele stehen in direkter Verbindung mit dem seit Jahrtausenden bewährten Erfahrungswissen des Yoga" (Seite 41). Yoga ist der wichtigste Bestandteil von K.E.K.S. Vergessen wird bei diesem Pochen auf das ehrwürdige Alter der Konzepte und Praktiken, ob und wie weit diese Denkweisen in einen anderen Kulturkreis transferiert werden können und ob es nicht auch z.B. in der europäischen  Kultur genügend passende Konzepte für Entspannung und Konzentration(wenn auch ohne Anreiz des Exotischen) gibt. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass es viele positive Erfahrungen mit Yoga, insbesondere  dem leichter erlernbaren Hatha-Yoga, hinsichtlich der Erdung, Zentrierung etc. gibt. Ein Vergleich verschiedener Wege, von denen einer Yoga darstellt, wäre wertvoll und in Richtung Voraussetzungslosigkeit öffnend.

Ein Beispiel für die problematische Übernahme von Konzepten aus einem anderen kulturellen Hintergrund: So ist die bei asiatischen Methoden oft erhobene Empfehlung, sich selbst zu beobachten, sich zu spalten, zu verdoppeln,  gleichsam aus sich heraus zu treten und auf  sich und das Verhalten zu achten,  keine so passende Zielsetzung, wenn man die zunehmende Schizoidisierung der Gesellschaft bedenkt.

Der Autor leitet vier (pädagogisch schon sehr lange bekannte) Prinzipien für erfolgreiches Lernen aus der Hirnforschung ab: 1. Liebe (die sattsam bekannte Notwendigkeit einer guten Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden wird im Text dann nicht als Liebe, sondern weniger ausufernd als Wertschätzung, Akzeptanz, Fehlertoleranz etc. bezeichnet, Seite 47), 2.Ganzheit durch Bewegung und Spiel;  3. Sinn und 4. Selbstorganisation.

Der Autor nennt als wichtige Bildungsziel-Generatoren den Namen (er ergibt z.B. das Bildungsziel: Selbsterkundung und u. a. Mut zur Authentizität),  die Macht ( das ergibt z.B. das Bildungsziel "Selbstregulierung"), die  Heimat (ergibt z.B. das Bildungsziel, die Geschichtlichkeit der eigenen Existenz und die kulturelle Identität zu erforschen), und die Offenheit (ergibt z.B. das Bildungsziel "Dialog mit anderen Weltanschauungen")(Seite 59ff). Diese Bildungsziele sind nicht neu, aber die Verankerung mit prägnanten Begriffen ist originell (die ersten drei Begriffe hat der Theologe Zulehner eingebracht).

Positiv hervorheben kann man die Ausführungen zur Wahrnehmungsschulung, ebenso wertvoll ist die Hinführung zur Achtsamkeit  ( man könnte allerdings den Aspekt des Auf- etwas-Achtens, care, mehr betonen), sowie – nicht neu, aber gut - das Lernen auf drei Wegen. Die auf Seite 79f dargestellte Mystagogik versucht mit verschiedenen Übungen eine Offenheit für Spiritualität zu erzeugen, dem widerspricht eine explizite Zielsetzung, nämlich dass der Leib als "Tempel des Geistes" erfahren werden soll  (problematisch, weil es sich hier um eine vorgefasste Meinung/Erfahrung handelt, die bei den noch jungen Schüler/innen nicht vorausgesetzt werden kann, Seite 87). Diese Höherbewertung des Geistigen ergibt sich aus der axiomatisch eingebrachten Anthropologie.

Auf Seite 89 wird in Aussicht gestellt, dass  durch K.E.K.S.  ein wichtiger Beitrag geleistet wird, damit unbewusste Fremdbestimmungen aufgelöst werden, von verengenden  Denkmustern befreit wird , Kooperation, vernetztes Denken usw. usw. erworben werden. Ein großer Anspruch.

Aus Platzgründen nun nur mehr  einige skizzenhaften Anmerkungen:

·         Bei den Körperhaltungen (Asanas) des Yoga wird nur beim Kopfstand (Dreistand), auf medizinische Gefahren hingewiesen, die aber auch für etliche andere Haltungen (Kobra, Pflug etc.) gelten.

·         Bei der Tiefenentspannung (Seite 122ff) könnte man auf die Progressive Muskelrelaxation hinweisen, ein bewährtes Verfahren, das mit der Abfolge Muskelanspannung und –entspannung arbeitet. 

·         Die einzelnen Anweisungen z.B. zum Schwer- Werden und mit dem Boden Verschmelzen  sind nicht für jeden Menschen entspannend, ja sie können sogar Ängste ansprechen/ auslösen. Deshalb wird z.B. bei Kursen im Autogenen Training die Möglichkeit eingeräumt, statt Schwere sich vorzustellen, Leichtigkeit zu intendieren, bzw. wird überhaupt keine Anordnung  zu bestimmten Wahrnehmungen  getroffen; Verschmelzungsaufforderungen werden vermieden, sie können Menschen mit Abgrenzungsproblemen schwer irritieren;

·         die Chakren werden ohne Erklärung eingeführt.

·         Bei der Mantra-Übung wird - ohne Erklärung - das Wort „Schalom“ als bestgeeignet beschrieben (172), die experimentelle Forschung hat aber ergeben, dass auch sinnfreie Wörter den Zweck einer Fokussierung der Aufmerksamkeit erreichen. Wird hier eine suggestive Zweckwidmung "Friede" angestrebt? Manchmal ist auch Zivilcourage nötig, schalom als alleiniges Generalkonzept wäre problematisch.

·         Sehr gut  sind die Bewegungsübungen vom Chaotischen bis hin zur Verfeinerung und Verinnerlichung - sehr gut allerdings nur für Kinder mit extravertierten Persönlichkeitszügen oder -störungen. Für gehemmte, ängstliche Kinder müsste die Reihenfolge umgekehrt werden dürfen, zumindest ab und zu; überhaupt fehlen bei den Entspannungen die notwendigen Aktivierungen zum Schluss der Übung. Diese Tonisierung ist notwendig, damit wieder aktiv den Anforderungen des Tages entsprochen werden kann und die vermeintlich friedvolle Stimmung nicht eine unabgeschlossene Sedierung darstellt.

·         schwere Bedenken - auch, wenn es bisher gut gegangen sein soll - hat der Rezensent, der ausgebildeter Psychotherapeut in einer Imaginationstherapie ist, gegen die Fantasiereise auf Seite 206 f. Es ist nicht generell zu erwarten, wie der Text suggeriert, dass das Angstobjekt sich verkleinert und ganz lieb wird, wenn man sich ihm annähert. Die Angst kann größer werden, es kann zu einer (Re.)Traumatisierung kommen, auch wenn Soth Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt. Besser ist ein gemeinsames Erzählen einer Angstbegegnung.

Die vielen Anmerkungen und  diskussionswürdigen Punkte bezogen sich weder auf die treffende Interpretation der Ausgangslage durch den Autor, noch auf das wertvolle Anliegen des Autors, sondern auf fachliche Fragen und auf den nicht selbstverständlichen Einbau von Yoga-Übungen und Yogaphilosophie und von anthropologischen Aussagen, die axiomatisch eingeführt werden und somit gegen Widerlegung immunisiert sind, aber auf mitgeteilte Erfahrungen von Meditierenden zurück geführt werden.

Die Diskussion soll aber den Blick auf die vielen Positiva nicht verstellen!. Das Buch ist dicht geschrieben, hat eine Fülle von Anregungen parat und der Autor hat auch den Mut, über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Empirie hinaus zu gehen und seine eigene Erfahrung einzubringen.  Dazu kommt, dass seine Analyse der derzeitigen Gesellschaftsentwicklung  durchaus zutrifft und vulnerable Punkte aufzeigt. Der Versuch, die meditativ-achtsame, den Körper als wichtige Grundlage der Selbstwahrnehmung betrachtende Methode in der Schule zu implementieren, ist  an sich ein konsequenter Schritt, allerdings könnte der Autor in der sicherlich ohnehin beständigen Arbeit am Konzept auf die kritischen Anmerkungen eingehen und  die  Anthropologie von K.E.K.S. und deren Umsetzung  hinsichtlich der Voraussetzungsfreiheit überlegen, zumindest so, dass die Erfahrungen mit der Meditation primär sind und dann erst mögliche Auslegungen eingebracht werden.

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
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Veröffentlicht am
30.09.2014
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