Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert.
Für den Soziologen ist die Konstatierung von kollektiven Verhaltensmustern eine faszinierende Möglichkeit zur Analyse von gesellschaftlichen Trends....
Autoren: Hurrelmann K u Albrecht E
Verlag: Weinheim Basel: Beltz
Erschienen: 2014
Zum Inhalt
Die Menschheit hat etliche große Enttäuschungen verarbeiten müssen: Die kosmische (die Erde ist nicht der Mittelpunkt), die biologische (der Mensch hat Vorläufer), die psychologische (der Mensch ist nicht Herr seiner selbst) und noch etliche andere. Eine hier interessierende Enttäuschung könnte man als die soziologische bezeichnen (man ist nicht so originell, wie man glaubt). Sie lässt sich leicht an einem Sonntagsausflug demonstrieren. Man wählt einen bestimmten Ort, abgelegen, ruhig, viel Natur, wenig Menschen. Am Ziel angelangt merkt man, dass mindestens 100 andere dieselbe Idee hatten. Diese Tatsache illustriert das Zustandekommen von Typisierungen: Die Realverhältnisse formen die Verhaltensweisen, eine wichtige Prämisse, die zusammen mit der Konstatierung wechselnder Rahmenbedingungen zur Konklusion kommt: Es gibt verschiedene Verhaltensweisen, die mit den jeweiligen Phasenakzenten korrelieren bzw. von den Rahmenbedingungen geprägt werden. Für den Soziologen ist die Konstatierung von kollektiven Verhaltensmustern keine Enttäuschung, sondern eine faszinierende Möglichkeit zur Analyse von gesellschaftlichen Trends.
Eine weitere Prämisse, erfahrungsgestützt, ist, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zwar alle Menschen betreffen, aber Jugendliche auf der Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft sich besonders intensiv mit den gegebenen Bedingungen auseinander setzen. Ergänzt wird diese Beobachtung durch eine weitere Erfahrung, nämlich, dass zwar jeder seine individuelle Umgangsweise mit den Gegebenheiten hat, aber sich aus den gleichen Anforderungen und Systemeigenschaften so etwas wie ein kollektiver Stil, ein Sozialcharakter entwickelt. "Die Erlebnisse und Erfahrungen der Jugendzeit bestimmen die Interpretation späterer Ereignisse, sie atmen einen Zeitgeist und rahmen die Weltsicht. Das formt kollektive Gemeinsamkeiten" ( Seite 15). Selbstverständlich bleibt die Einteilung in bestimmte kollektive Gemeinsamkeiten bzw. in bestimmte Zeitabschnitte eine Option und von ebensolcher Induktionsunsicherheit behaftet wie etwa die Zusammenfassung von bestimmten Symptomen in Syndromen in der Psychiatrie.
In diesem Buch geht es um den interessanten Ansatz, mehrjährige Zeit-Abschnitte mit einem Namen zu versehen, der als Kennzeichen für diese Periode gelten kann. Die Annahme dabei ist, dass die Realität, wie sie der jeweilige Geburtenjahrgang in seinem Lebenslauf vorfindet, einen prägenden Einfluss auf sein Verhalten habe. Alle 15 Jahre wird eine neue Kennzeichnung vorgenommen: Beginnend 1925 werden z.B. unterschieden die skeptische Generation (die Nachkriegsgeneration), die 68er Generation (Wirtschaftswunder und Protest), die Babyboomer (Postmaterialismus), die Generation X (orientierungslos und hedonistisch), die Generation Y (Ungewissheit und Sinnfrage; das Y wird im Englischen als "why" ausgesprochen) und die Generation Z (Regellosigkeit und Selbstbestimmung).
Interessant wäre eine Überlegung, inwieweit eine Beziehung, Ähnlichkeit, Akzentuierung zwischen dem soziologischen Generationenbegriff und dem Habituskonzept (Norbert Elias, Pierre Bourdieu), der Philosophie der symbolischen Formen (Ernst Cassirer), der Idee des Diskurses (Jürgen Habermas, Michel Foucault) besteht bzw. herstellbar ist.
Die Autoren beschreiben verschiedene Facetten der Y-Generation. Der Rezensent hörte auch kritische Stimmen: Die 15-Jahre-Abstände seien willkürlich, die Beschreibungen seien sehr weitmaschig, man könne alles Mögliche hinein denken. Dadurch seien die jeweiligen Charakteristiken wenig trennscharf und so verschiedenen Generationen zuordenbar. Der Rezensent meint dazu: Eine Antwort darauf kann an mehreren Punkten ansetzen.1) Die Generationen-Charakteristiken sind, wie die Autoren beteuern, Ergebnisse umfangreicher empirischer Forschung, die Klischees hinter sich lassen (Seite 9). 2) können die verschiedenen Generationen vor ähnlichen Fragen stehen, ihre Antwort ist aber unterschiedlich (siehe dazu etwas weiter unten die vom Rezensenten als Beispiel ausgeführten Akzentuierungen der Sinnfrage. 3) geht es um lebensechte Kennzeichnungen, diese zeigen sich in fließenden Übergängen und weisen durchaus auch Ausnahmen auf.
Wie sind also die Ypsioner? Die Ypsiloner sind bildungshungrig ( Bildung bestimmt die Positionierung in der Gemeinschaft), sie sind Improvisationsmeister. Sie sind Egotaktiker, der ausgeprägte Rekurs auf eigene Vorstellungen wird freilich dort problematisch, wo es um Solidarität geht. Sie streben eine Balance der Work-Life-Beziehung an. Sie sind nicht interessiert an Streitigkeiten mit den Eltern, der Generationen-Konflikt wird nicht geschürt, aber es bestehen sehr dezidierte Wünsche an Politik, Ethik, konkrete Vorstellungen über den eigenen Lebensstil. Und die Ypsiloner sind heimliche Revolutionäre, die die Welt verändern, z.B. in flexiblere Formen familialer Partnerschaften, sie stimulieren diese Veränderung ohne große Ankündigung, sondern eher durch die normative Kraft des Faktischen..
Die Why-Generation (Y-Generation) stellt alles in Frage und sucht neue Antworten, doch nein: Die Beschreibungen der beiden Autoren, Jugendforscher der eine und Journalist der andere, legen nahe, dass nur mehr die Aufgabenstellungen in der Bildung notwendig seien, alles andere besorgen die Lernenden selbst:"Wir suchen nicht, wir finden" (Seite 223). Die Problematik dieser Haltung (Problem der Quellenseriosität, der rekursiven, oft zirkelhaften Zitierungen und überhaupt der Konservativität des ausschließlichen Findens des Vorhandenen ) wird aber nicht aufgegriffen.
Die Why-Generation sucht die Sinnhaftigkeit:" Die Frage nach dem Sinn wird zum Merkmal einer Generation" (Seite 8), allerdings ist es keine Frage, die misstrauisch beäugt wird (skeptische Generation) , nicht eine Auflehnung gegen die Gesellschaftsordnung (68er-Generation), nicht eine Abwendung vom Materialismus (Generation baby boomer), nicht eine "Null Bock"- Mentalität (Generation X), auch keine philosophische Frage nach dem Sinn an sich, sondern eine pragmatissche, selbstbezogene:" Gerade hier ermöglichen ihnen ihr egotaktisches Spiel mit verschiedenen Optionen und ihr Hang zum Individualismus, die eigenen Vorstellungen durchzusetzen...Abschied von Hierarchien, Umorganisation der Arbeitsabläufe zu einzelnen Projekten, Teamwork, flexible Arbeitszeiten, Mitarbeiterbeteiligung." (Seite 227).
Das Buch bringt eine Fülle von Aspekten, die nicht nur für die Ypsiloner unter den Lesern interessant sind, sondern auch die anderen Jahrgänge herausfordern: Gestaltungsfreiheit in Arbeit und Beruf, unbefangene Männlichkeit und Weiblichkeit, Parlamente der Alten, Selbstoptimierung, die Messung der eigenen Körperfunktionen im Fitnessrausch bzw. Wettbewerb (das quantified self) - das sind nur einige Beispiele für die zahlreichen Charakteristiken der Y-Generation, die zur Frage an den eigenen Lebensstil provozieren! Und dazu, öfter die Frage "Why" zu stellen, auch wenn man nicht zur Y-Generation gehört!