Das große Buch der Gefühle
Durch die Vielfalt der phänomenologisch ausgebreiteten Betrachtungen wird sicher jeder Leser Punkte zur Auseinandersetzung entdecken. Es sind gerade die unspektakulären Maßnahmen, die hochwirksam sein können.
AutorInnen: Baer U u Frick-Baer G .
Verlag: Weinheim und Basel: Beltz Verlag
Erschienen: 2014
Zum Inhalt
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ie beiden Autoren wollen Gefühle ernst nehmen und würdigen. Ihr Plan: 17 Gefühle werden dargestellt, indem zunächst der Sinn und Nutzen des jeweiligen Gefühls beschrieben wird. Zugleich wird das besprochene Gefühl auch in den Kontext eingebettet - die Autoren sprechen bildlich von der "Landschaft". Man kann sich allerdings in dieser Landschaft verirren, in Einseitigkeiten, in Zuviel und Zuwenig geraten. Dann ist Rat und Hilfe angezeigt, den die Beiden aus ihrer langjährigen pädagogischen Erfahrung gestalten. Sie bringen sich dabei als kreative Leibtherapeuten ein: ´Sie arbeiten mit künstlerischen Medien und orientieren sich am Erleben (das sie etymologisch mit "Leib" in Verbindung bringen). Die Autoren sprechen den Gefühlen eine wichtige Überlebensfunktion zu: Sie helfen zu schnellem, richtigen Reagieren auf differente Situationen.Die Darstellung der Gefühle ist weit gespannt: Sehnsucht, Scham, Schuldgefühle, Angst, Geborgenheit, Ärger, Wut und Zorn, Hass, Jähzorn, Trotz, Einsamkeit, Würde, Verantwortungsgefühl, Trauer, Mitgefühl, Treue-Verrat- Verbundenheit, Freude und Glück, Neugier-Interesse- Leidenschaft-Langeweile, Liebe, Eifersucht und Neid, Vom Sich-fremd-Sein zum In-sich-Wohnen. Abgeschlossen werden die Betrachtungen durch eine "Grammatik der Gefühle". Zur Letzteren meinen die beiden Autoren:" Wir sprechen von Grammatik , weil grammatikalische Regeln Ausnahmen zulassen und flexibler sind als die mathematisch orientierte Logik, die Logik des Verstandes" (Seite 11). Diese Gegenüberstellung von Grammatik und Mathematik wird vom Rezensenten nicht geteilt. Mathematik ist die Wissenschaft, die sich mit Strukturen und deren Umformungen etc. befasst, wobei das Reizvolle ist, wie durch unterschiedliche Konkretisierungen der jeweilige Algorithmus zum Leben erweckt wird.
Zwei Gefühle sollen nach Zufallsprinzip ausgewählt werden, um die Argumentationsweise der Autoren zu demonstrieren: Schuldgefühle und Einsamkeit. Schuldgefühle sind unterschiedlich begründet, es gibt solche, die mit Geben und Nehmen, mit "jemandem etwas schuldig bleiben" zu tun haben. Es kann aber auch eine Schuld sein, die vor dem Gesetz begangen wird. Baer und Baer geben als Sinn der Schuldgefühle eine Bremswirkung an, die z.B. eine Eskalation von Unrecht verhindern kann. Interessant ist die Unterscheidung zwischen Schuldgefühlen ohne Schuld , die aber existentiell belastend sein können (etwa, wenn die Mutter sagt:" Seit du geboren wurdest, bin ich krank!"), Schuldgefühle der Überlebenden (nach Katastrophen kommen oft Fragen wie:" Warum habe ich überlebt und die anderen nicht?"), Schuldgefühle ohne bewusste Begründung (traumatische Erfahrungen werden oft weggesteckt und kommenden Generationen weiter gegeben). Als Rat und Hilfe werden angeboten drei Schritte (Bewusstmachung, darüber Sprechen, Ausgleichshandlungen), Wege zum inneren Frieden (wobei ein Druck zum "Versöhnen- Müssen nicht förderlich ist und manches auch unversöhnt bleiben muss), und eine aus der Gestalttherapie bekannte Methode der Anklageschrift (in einer fiktiven Verhandlung erfolgt ein Freispruch). Die Behandlung der Schuldgefühle findet der Rezensent kompakt und anregend.
Das zweite ausgewählte Gefühl ist die Einsamkeit . Die Beurteilung der Bearbeitung fällt nicht so positiv aus. Es fängt schon an mit der Aussage zum Sinn der Einsamkeit: Es ist ein Signal, dass in den seelisch-sozialen Beziehungen etwas fehlt und der Veränderung bedarf. Lässt sich diese Defiziterfahrung nicht von allen negativen Gefühlen sagen? Abgesehen davon handelt es sich um Tautologie der Art, wie wenn man sagte: " Krankheit ist ein Signal, dass etwas in gesundheitlichen Bereichen fehlt und das verändert werden soll!" Verwirrung erzeugen die fünf Einsamkeiten: Kontakteinsamkeit (man lebt isoliert), Freundschaftseinsamkeit (man hat Kontakte, aber scheut die gegenseitige Beziehung einer Freundschaft); Intimitätseinsamkeit (Identitätsunsicherheit führt zum Meiden intimer Kontakte), die Herzenseinsamkeit (Einsamkeit des inneren Kerns eines Menschen, der neben Konventionen nur Leere erfahren hat und sich vor dieser verschließt). Es gibt noch eine Bindungseinsamkeit, weder der Text auf Seite 168f, noch die Abbildung auf Seite 160 klären die Position der Bindungseinsamkeit, einerseits geht sie aus der Herzenseinsamkeit hervor, andererseits ist sie Resultat schon sehr früh gestörter Mutter-Kind-Interaktionen. Die Empfehlungen "Rat und Hilfe" bewegen sich auf einem sehr scharfen Grat zwischen neuer Erkenntnis und Altbekanntem (Trivialem) : man soll sich nicht beim ersten Treffen zu viel erwarten, Misstrauen nicht wegstecken, aber d´ran bleiben und Verbindung üben, anderen so oft wie möglich offen in die Augen schauen; ein Schatzbüchlein über positive Erfahrungen sammeln und schließlich eine neue Perspektive zulassen - metaphorisch durch eine leichte körperliche Positionsänderung, nachdem man in einer Übung eine für die aktuelle Situation passende Haltung eingenommen hat..
Auf Seite 179 meinen die Autoren:" Würde gehört nicht zu den Grundausstattungen des Menschen". Sie muss erlernt werden. Dass man Würde nur durch die Resonanz anderer Menschen erwirbt, ist ein interessanter Gedanke, Martin Buber würde diesem dialogischen Ansatz zustimmen, allerdings würden andere wie Michel de Montaigne diese Ausschließlichkeit entschieden in Abrede stellen: Der Mensch hat seine Würde in sich, er muss sich selbst verwirklichen. Und Viktor Frankl würde ergänzen, dass die Menschenwürde ein Konstituens des Menschen ist, sodass auch körperlich, geistig Behinderte eine unaufhebbare , weil anthropologisch verankerte, Würde besäßen.
Auf Seite 157 wird die Positive Psychologie kurz abgefertigt als etwas, zu dessen selbstschädigenden Wirkungen man eine Gegenposition beziehen müsse, z.B. indem man auch die negativen Gefühle akzeptiert. Hier wird offensichtlich das (zu Recht kritisierte) "positive Denken" mit der (empirisch wissenschaftlich fundierten ) Positiven Psychologie verwechselt, bei der es nicht um ein "Rosarotes Brillen"-Phänomen geht, sondern um eine aktive Suche nach Ressourcen, Stärken, Fähigkeiten, mit dem Ziel, das Wohlbefinden zu steigern.
Auf Seite 321 steht der nicht sehr fundierte Satz:" Nach der formalen Logik muss alles seinen Grund haben, jede Wirkung hat eine Ursache". Logik ist die Grammatik des Denkens, ihr geht es um das richtige Schlussfolgern unabhängig von den Inhalten. Das hat nichts mit Ursache-Wirkung zu tun, sondern mehr mit Satzstrukturen. Die behauptete Unabhängigkeit von Gefühlen - sie brauchen keinen Grund, nur Anlässe - kastriert die wichtige Botschaft der Gefühle. Die vermeintliche Regel-Starrheit der Logik ist schon längst kein Thema mehr, u.a. seit dem Bestehen der Modallogik.
Interessant sind die 12 Regeln, nach denen sich Gefühle richten (Anlassbezogenheit, Maßlosigkeit, Paradoxie usw.). Den Abschluss des Buches dienen eine Falldarstellung, die das Drama der Gefühllosigkeit demonstriert, und Anmerkungen zum Zuviel von Gefühlen.
Das Buch ist rein äußerlich sehr schön gestaltet. Aber auch den Texten kann man eine gewisse Ästhetik der Verständlichkeit nicht absprechen: Fachjargon wird vermieden, ebenso eine Befrachtung mit Literaturhinweisen. Die Ausführungen sind aus den eigenen Erfahrungen abgeleitet, assoziativ, ja fast meditativ gehalten. Die Eigenwilligkeit der Inhalte (Quellen sind weniger empirische Befunde der Pädagogik, Psychotherapie, sondern eigene beschrittene Wege in der Begegnung mit Menschen) macht es wahrscheinlich, dass man mit Gedanken konfrontiert wird, die sich nur abseits von der allgemein begangenen Straße auf einem kreativen Pfad finden lassen. Manchmal ist dieser Pfad verschlungen und nicht ganz einsichtig - wie z.B. bei der Erörterung der Einsamkeit, bei der nicht sehr trennscharfe Differenzierungen vorgenommen werden.
Durch die Vielfalt der phänomenologisch ausgebreiteten Betrachtungen wird sicher jeder Leser Punkte zur Auseinandersetzung entdecken. Die Schlichtheit der Empfehlungen in "Rat und Hilfe" mag da und dort als Naivität gewertet und belächelt werden. Aber es sind gerade die unspektakulären Maßnahmen, die hochwirksam sein können. Viele Beispiele, Tipps werden fast wie in einem persönlichen Gespräch vermittelt.
Alles in allem: Eine angenehme, informative und anregende Lektüre, deren einzelne Kapitel essayistisches Lesevergnügen bereiten!